In den Nullerjahren verzauberte er als italoschottischer Jüngling mit Schleifpapierstimme die Massen. Das hinderte Paolo Nutini nicht, sich dem Business immer wieder ganz zu entziehen.

Shamil Tanna

Man kennt ja den Moment, an dem der Sommer zu kippen beginnt und der Herbst anklopft. Oft ist es nicht mehr als ein kaltes Lüftchen, das zwar schnell vorüberhuscht, seine Botschaft aber deutlich macht: Obacht, jetzt ist es bald so weit! Wenn dieser Moment kommt, ist es vielleicht an der Zeit, Paolo Nutini aufzulegen. Der schottische Singer-Songwriter mit italienischem Papa ist nämlich so etwas wie der ewige Spätsommer – es geht bei ihm verlässlich die italienische Sonne hinter den Highlands unter. Oder anders gesagt: Die kalten Lüftchen können hier gar nicht so stürmisch werden, dass nicht noch ein bisschen Restwärme wirken würde.

Nutini war gerade erst volljährig, als er mit dem Debüt These Streets 2006 in einem Atemzug mit Amy Winehouse als Erneuer des Soul gefeiert wurde. Bereits als schöner Jüngling mit einer nach mindestens 40 alkohol- und zigarettengestählten Reifejahren klingenden Schleifpapierstimme ausgestattet, brachte er von Natur aus mit, was Fans und Musikindustrie gleichermaßen mit der Zunge schnalzen ließ. Da dieser "nice guy" mit den Wuschelhaaren und dem Schmollmund autodidaktisch auch noch verdammt eingängige Lieder schrieb (das Singen lehrte ihn sein schottischer Großvater) und live sowieso die Glasgower Pubkultur eine gute Schule war, verkauften sich die Folgealben Sunny Side Up (2009) und Caustic Love (2014) bis an die Spitze der Charts. Damals verzauberte er sogar Adele, die über eine Livefassung des Songs Iron Sky bemerkte, es sei mitunter das Beste, was sie je gehört habe.

Gute Work-Life-Balance

So hätte es weitergehen können. Doch das Schönste an Paolo Nutini ist vielleicht, dass er sich trotz des frühen Erfolgs von der Industrie nicht verheizen ließ. Immer wieder nahm er sich im Sinne einer gelungenen Work-Life-Balance lange Pausen vom Musikgeschäft. Die letzte dauerte nun fast acht Jahre. Er unternahm ausgedehnte Reisen, nach Südamerika etwa, durchwanderte aber auch schon die schottischen Berge und trainierte dabei Überlebenstechniken. Zuletzt lebte er wieder in seinem Heimatort Paisley, um mit Freunden ein bisschen Jugend nachzuholen: Chillen, Kiffen, Computerspielen, warum nicht.

BBC Music

Dem nun aber doch erschienenen vierten Album Last Night in the Bittersweet hört man diese langen Jahre der Absenz kaum an. Zwar wird es als Nutinis "persönlichstes" Album beschrieben, aber auch hier bleibt der Italoschotte ganz bei sich und trennt sauber Beruf von privat. Es geht wie immer um Liebe, enttäuschte Liebe, und die Liebe, da muss nichts neu erfunden werden.

Zu neuer Varianz findet Nutini vor allem hinsichtlich des Sounds: psychedelischer als bisher, verspielter, multiinstrumentaler denn je. Mit Through the Echoes gelingt ihm sein vielleicht bestes Lied überhaupt – die Melancholie wird hier ganz kräftig zu Tode umarmt. Und mit der pathetischen Hymne Shine a Light, in der sich David Bowies Geist Nutinis bemächtigt, lässt sich der spätsommerliche Sonnenuntergang noch lange aushalten. Wenn’s sein muss, sogar bis nächstes Jahr. (Stefan Weiss, 17.8.2022)