In seinem Gastkommentar geht Ökonom Stephan Schulmeister auf die hohen Strompreise ein und fordert einen Systemwechsel.

Obwohl fast 80 Prozent der Stromproduktion in Österreich aus Wasser-, Wind- und Solarkraftwerken stammen, sind die Strompreise im Großhandel auf das Vierfache gestiegen. Warum? Weil die Preise auf den europäischen Strombörsen durch die Decke gingen. Also kassieren die Produzenten von billigem Strom Milliardengewinne auf Kosten derer, die Strom (ver-)brauchen. Statt nur die Folgen dieser Fehlentwicklung zu mildern, sollte die Politik ihre systemischen Ursachen beseitigen, die Bildung der Strompreise. Beginnen wir mit der Rolle der Börsen.

Der Strompreis ist hoch. Ein Ende scheint – noch – nicht in Sicht.
Foto: imago images/Jochen Tack

Erstens: Nur ein kleiner Teil des Stromhandels wird über Börsen abgewickelt. Die dort gebildeten Preise schwanken viel mehr als die tatsächlich realisierten Strompreise. Zweitens: Die Börsenpreise werden in stündlichen Auktionen ermittelt. Ob die Verteuerung der Angebote nur durch das "letzte Gaskraftwerk" bedingt ist oder auch durch Profitstrategien, wissen wir nicht – Billigstromproduzenten könnten ihr Angebot so "dosieren", dass immer auch ein teurer Gasstromanbieter zum Zug kommt – oder einfach die Preise erhöhen. Drittens: Der Strompreisindex, nach dem die Energieversorger die Tarife der Endverbraucher anpassen, basiert auf den Börsenpreisen. Dadurch wird eine die reale Entwicklung überzeichnende Verteuerung zur Realität gemacht.

Nun zur Stromversorgung als einer der Dienstleistungen der Daseinsvorsorge. Diese dienen der Existenzsicherung der Menschen und ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (öffentlicher Verkehr, Telekommunikation, Wasser- und Energieversorgung et cetera). Dafür sehen die EU-Verträge Ausnahmen von den Regeln des Wettbewerbs vor, sofern letztere die Versorgungssicherheit zu erschwinglichen Preisen nicht gewährleisten.

"Natürliches Monopol"

Tatsächlich ist eine "marktkonforme" Daseinsvorsorge weder ökonomisch effizient noch sozial gerecht, weil die entsprechenden Dienstleistungen (fast) immer in "Netzwerkökonomien" erbracht werden. Das Strom-, Gas-, Wasser-, Eisenbahn- oder Telekommunikationsnetz stellt jeweils ein "natürliches Monopol" dar. Will man dennoch "Markt spielen", muss man Bereitstellung und Erhalt des Netzes von seiner Benützung trennen. Die Privatisierung des Netzes scheitert daran, dass der Betreiber an Erhalt und Verbesserung des Netzes nichts verdient. Und private Benützer des Netzes suchen sich die "Rosinen" aus, die Versorgungsfunktion der Daseinsvorsorge kommt unter die Räder – die Westbahn fährt halt nur auf der Westbahn.

Im Fall der europaweiten Strombereitstellung kommt das Problem der raschen und präzisen Koordination von Produktion und Verbrauch hinzu (andernfalls drohen Blackouts). Sie wird durch das "Markt-Spielen" für 21 regionale Preiszonen erschwert (einen gemeinsamen Markt samt Preis gibt es mangels Leitungskapazitäten nicht). Unter diesen Bedingungen ist eine planwirtschaftliche Steuerung effizienter.

Die Deregulierungseuphorie

Gedankenexperiment: Wenn die EU die Wasserversorgung nach der Logik der Stromliberalisierung organisierte, gäbe es transeuropäische Wasserpipelines, an der EU-Wasserbörse würde der Preis durch das teuerste, noch benötigte Wasserwerk bestimmt. Er betrüge in einer Krise zehn Euro pro Kubikmeter (circa 1000 Liter), also fünfmal so viel wie die Kosten des Wiener Wassers. So viel müsste die Gemeinde den Wienerinnen und Wienern verrechnen, andernfalls flöße das Wasser in andere EU-Länder ab.

Die Crux liegt also in der Liberalisierung der Daseinsvorsorge selbst, dort muss man ansetzen. Das bedeutet beim Strom: Es muss möglich werden, dass die österreichische Bevölkerung den (Kosten)Vorteil aus jenen Investitionen in die Wasserkraft bekommen kann, die sie in Jahrzehnten geschaffen hat.

Dazu kommt pro futuro: Warum soll ein Land gewaltige Investitionen tätigen, um zu 100 Prozent erneuerbaren und gleichzeitig billigeren Strom zu erzeugen, wenn es diesen dann an andere EU-Länder verkaufen oder die eigene Bevölkerung mit überhöhten Preisen belasten muss?

Alle diese Aspekte wurden in der Deregulierungseuphorie der 1990er-Jahre übersehen, als das "Ende der Geschichte" erreicht schien in Gestalt des neoliberalen (Finanz)Kapitalismus. Wie Goethes Zauberlehrling sind wir nun gefangen in einem Netz von EU-Sachzwängen. Doch am Ende von Sackgassen muss man umkehren, erst recht in einer multidimensionalen Krise. Gelingen können "Ausbrüche" aber nur bei den schwächsten (= unsinnigsten) Stellen wie der Strombepreisung.

"Ringelspiel" vermeiden

Dabei sollte Österreich eine Vorreiterrolle spielen: Die staatlichen Stromversorger werden verpflichtet, die inländischen Haushalte und Unternehmen vorrangig zu beliefern, und zwar zu ihren Durchschnittskosten – ähnlich wie in der Schweiz, dort gilt dies aber nur bei Haushalten. Überschüssiger Strom wird (im Sommer) exportiert, fehlender Strom (im Winter) importiert, beides zu EU-Preisen. Insgesamt wären die Strompreise in Österreich dann deutlich höher als vor zwei Jahren, aber viel niedriger als die Börsenpreise. Damit wird folgendes "Ringelspiel" vermieden: "Unsere" staatlichen Stromversorger knöpfen den Inländern Milliarden ab, der Staat holt sich (vielleicht) einen Teil der "Übergewinne" und gibt sie an Haushalte und Unternehmen zurück. "Geht’s noch?" ist mit einem klaren Nein zu beantworten.

Begründet wird dies mit Artikel 5, Absatz 4 der EU-Richtlinie über den EU-Elektrizitätsbinnenmarkt (Bedingungen für staatliche Strompreise): Bei einem demnächst auf fast das Fünffache gestiegenen Strompreis herrscht in Bezug auf den Grundbedarf der Haushalte und Unternehmen allgemeine "Energiearmut". Da der Grundbedarf in etwa der ans Inland gelieferten Stromproduktion entspricht, muss es den heimischen Versorgern gestattet sein, diesen Grundbedarf zu Kostenpreisen zu decken.

Wichtiger als die juristischen Gefechte vor dem Europäischen Gerichtshof wäre die dadurch ausgelöste Grundsatzdebatte über die Bepreisung von Dienstleistungen der Daseinsvorsorge auf Börsen und die Mühen des Rückwegs zu einer – wieder sozialen – Marktwirtschaft. (Stephan Schulmeister, 17.8.2022)