"Stoppt die Rache" hieß es bei einer Demonstration 2020 in Kiew. Gerichtet war der Appell an die eigene Regierung. Rache ist im Krieg ein unscharfer Begriff, findet Fabian Bernhardt.

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Rache ist ein Wort, das häufig gebraucht wird, um gewalttätige Konflikte zu erklären. Aber verwenden wir den Begriff richtig? Der Berliner Philosoph Fabian Bernhardt hat sich in seinem Buch Rache (Matthes und Seitz, 2021) damit auseinandergesetzt.

STANDARD: In Analysen des Ukraine-Kriegs taucht häufig die Erklärung auf, Putin würde Rache nehmen für den Zerfall der Sowjetunion und des Russischen Reichs. Glauben Sie das?

Bernhardt: Ich kann nicht beurteilen, wie es um Putins Gefühlshaushalt steht und ob er tatsächlich aus Rache handelt. Letztlicht bleibt das spekulativ. Die Eilfertigkeit, mit der diese Erklärung in den westlichen Medien artikuliert wurde, weckt in mir aber Skepsis, weil sie einem in unserer Gesellschaft fest verankerten Muster folgt: Es sind immer nur die "anderen", denen man Rache als Motiv unterstellt. Geht es um jemanden wie Putin, Kim Jong-un oder Erdoğan, sprechen wir schnell von Rache. Bei unseren eigenen Politikern, Macron oder Merkel zum Beispiel, tun wir das nicht.

STANDARD: Warum?

Bernhardt: Es ist eine Geste der Aussonderung und Projektion auf die "anderen". Sie fügt sich in eine lange Geschichte ein: Das philosophische Denken der Aufklärung hat die Rache nicht nur zum Anderen des Rechts erklärt, sondern zum Anderen der Moderne überhaupt. Die Moderne nimmt für sich in Anspruch, die Leidenschaften der Rache überwunden zu haben. Dabei handelt es sich freilich um eine Form der Selbsttäuschung.

STANDARD: Woran machen Sie das fest?

Bernhardt: Es gibt so etwas wie ein modernes Inkognito der Rache. Rachegefühle sind uns keineswegs fremd, aber man spricht nicht öffentlich darüber, um sich keiner moralischen Verurteilung auszusetzen. Also lagern wir diesen verdrängten Teil aus. Wenn in den Nachrichten explizit das Wort Rache auftaucht, dann geschieht das nahezu ausschließlich unter Überschriften, die die Rache in irgendeiner Weise mit dem Marker des "anderen" versehen, etwa im Zusammenhang mit Krieg, islamischem Terrorismus, organisierter Kriminalität oder sogenannten Parallelgesellschaften. Darin zeigt sich auch ein koloniales Erbe: die Projektion der Rache auf sogenannte primitive oder archaische Gesellschaften, denen sich Europa moralisch überlegen wähnt.

"Die Moderne nimmt für sich in Anspruch, die Leidenschaften der Rache überwunden zu haben."

STANDARD: Sie sind skeptisch, ob Putin revanchistisch handelt. Aber ist Rache nicht eine zentrale Triebfeder von Kriegen? Fast immer werden sie so begründet.

Bernhardt: Das stimmt schon, doch häufig genug geschieht das bloß, um anders gelagerte Absichten rhetorisch zu verschleiern. Man muss zudem immer genau darauf achten, wer diese Motive als Erklärung ins Feld führt. Denn so, wie der Verweis auf Rache verwendet wird, um gewaltförmige Handlungen zu legitimieren, wird er auch dazu benutzt, bestimmten Handlungen ihre Legitimität abzusprechen. Wir stoßen hier auf eine grundlegende Ambivalenz, die sich die politische Rhetorik seit jeher zunutze macht.

STANDARD: Wie wurde Rache in der Geschichte definiert, wie definieren Sie sie heute?

Bernhardt: Spätestens seit dem 18. Jahrhundert gilt es in der modernen Rechtsphilosophie als ausgemacht, dass sich Rache und Recht wechselseitig notwendigerweise ausschließen. Das war in früheren Zeiten anders. In den biblischen Kulturen war Rache ein Rechtsbegriff. Und auch die griechische Antike kannte keine systematische Unterscheidung zwischen illegaler Rache und legaler Strafe, so wie sie uns heute selbstverständlich erscheint. Diese Unterscheidung hat erst das politische Denken der Aufklärung etabliert. Im Zuge dessen wurde der Begriff der Rache extrem negativ aufgeladen und rigoros aus der Sphäre des Rechts ausgesondert. Das hat zu einer extremen Verarmung und Vereinseitigung unseres Verständnisses der Rache geführt. Daher spreche ich von der Rache als einem "blinden Fleck" der Moderne. Diesen Fleck versuche ich in meinem Buch auszuleuchten, um zu einem differenzierteren und der sozialen Realität angemesseneren Verständnis der Rache zu kommen.

STANDARD: Was ist der Unterschied zwischen Rache und Gerechtigkeit?

Bernhardt: Die Rache und das Recht sind beide auf die Idee der Gerechtigkeit bezogen. So wenig man sagen kann, dass staatlich vollstreckte Strafen a priori gerecht sind, so wenig kann man behaupten, dass Racheakte notwendigerweise ungerecht sind. Beide können sowohl gerecht als auch ungerecht sein. Der rechtstheoretische Mainstream hilft sich über die daraus entstehenden Fragen in der Regel dadurch hinweg, dass er jede exzessive Form der strafenden Vergeltung Rache nennt. Der Begriff der Strafe wird dann umgekehrt für das reserviert, was angemessen und gerecht erscheint.

STANDARD: Wenn Rache so negativ behaftet ist: Warum ist die "westliche" Kulturgeschichte dann voll mit positiv dargestellten Rächerfiguren, etwa im Actionfilm der 80er-Jahre?

Bernhardt: Rachegeschichten sprechen ein Bedürfnis an, das im Menschen tief verwurzelt ist. Sie verbinden sich mit dem Versprechen, dass niemand, dem Unrecht angetan wurde, dazu verurteilt ist, für immer Opfer zu bleiben. Die Rache wird inszeniert als eine paradigmatische Form der Selbstermächtigung.

STANDARD: Die stärkste Gegenerzählung zur Rache ist wohl die der Vergebung, die zum Beispiel im Zentrum des Christentums steht. Gehandelt wird eher selten danach. Warum?

Bernhardt: Wenn Ihnen ein schlimmes Unrecht angetan wurde, wird Vergebung vermutlich kaum das Erste sein, was Ihnen in den Sinn kommt. Echte Vergebung, das heißt eine Vergebung, die weder aus Selbstgefälligkeit handelt noch aus dem bloßen Wunsch, eine schmerzhafte Vergangenheit möglichst rasch hinter sich zu lassen, ist unendlich schwierig. Nur wenigen Menschen gelingt das. Mit dem Verlangen nach Rache verhält es sich anders. Es scheint in gewisser Weise die menschlichere und der Realität unseres Gefühlslebens angemessenere Reaktion auf eine erlittene Kränkung zu sein. (Stefan Weiss, 17.8.2022)