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Beim Fermentieren entstehen Milchsäurebakterien, die sind gutes Futter für die Mikroben im Darm.

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Alles begann mit Zwillingen. Und mit der Frage, warum selbst eineiige Zwillinge mit identischem Genmaterial häufig nicht die gleichen Krankheiten entwickeln. Tim Spector ließ die Frage nicht los, wie es sein kann, dass ein Zwilling Diabetes bekommt und der andere nicht oder einer von ihnen an Adipositas erkrankt, während der andere ein völlig normales Gewicht behält.

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage stieß der Epidemiologe vom Londoner King’s College und Buchautor mit seinem Team auf das Mikrobiom – die Mischung aus Bakterien, Mikroben und Viren, die den menschlichen Darm bevölkert. Das Erstaunliche: Selbst bei eineiigen Zwillingen, die ein völlig gleiches Erbgut tragen, waren nur 37 Prozent der Mikroorganismen in ihrem Darm identisch. Noch erstaunlicher: "Dieser Prozentsatz ist nur geringfügig höher als bei zwei Menschen, die nicht miteinander verwandt sind", erklärt Spector.

Tim Spectorist Professor für genetische Epidemiologie am King’s College London und ärztlicher Berater am Guy’s and St. Thomas’ Hospital. Zudem ist er mehrfach ausgezeichneter Experte für personalisierte Medizin und das Mikrobiom.
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Für ihn wurde klar: "Wenn die Mikroorganismen selbst bei eineiigen Zwillingen so unterschiedlich sind, muss die Vielfalt des Mikrobioms im Darm weniger mit den Genen und mehr mit den Nahrungsmitteln, die wir täglich zu uns nehmen, zusammenhängen."

Wie ein neues Organ

Das war vor rund zwölf Jahren. Dann folgte ein prägender Einschnitt in Spectors Leben. Mit Anfang 50, während eines Ski-Urlaubs in den Bergen, erlitt er einen leichten Schlaganfall. Dadurch rückte das Thema Ernährung für ihn noch mehr in den Mittelpunkt.

Er begann alles, was er bisher über Ernährung wusste, grundlegend zu überdenken. "Ich erkannte damals, da gibt es plötzlich eine neue Wissenschaft. Die Wissenschaft vom Mikrobiom." Es war, als hätten er und sein Team ein neues Organ im Körper entdeckt, das Botenstoffe und Chemikalien aussendet.

Dieser für ihn neue Player könne unser Immunsystem unterstützen, beeinflusse den Appetit, den Stoffwechsel und verändere sogar die Stimmungslage, erzählt Spector. Und obwohl durch wissenschaftliche Erkenntnisse der vergangenen Jahre immer mehr über die winzigen Organismen bekannt wurde, ist vieles noch unklar: Warum tun manche Lebensmittel dem Mikrobiom gut, andere nicht? Welche Lebensmittel helfen, Krankheiten vorzubeugen? Fachleute gehen davon aus, dass die Antworten auf diese Fragen für jeden Menschen andere sind – und das macht die Sache nicht gerade einfacher.

Individuelle Auswirkungen

Um möglichst viele Daten über die Wirkung von Lebensmitteln auf den Körper sammeln zu können, führt Spector gemeinsam mit seinem Team am King’s College, mit Forschenden des Massachusetts General Hospital, der kalifornischen Stanford University und dem Ernährungsberatungsunternehmen Zoe "die weltweit größte ernährungswissenschaftliche Studie mit dem Namen Predict durch". Predict steht für "Personalized Responses to Dietary Trial" und bedeutet so viel wie: Studie zu den individuellen Auswirkungen der Nahrungszusammensetzung.

Im ersten Schritt nahmen 2000 Freiwillige teil. Zwei Wochen lang wurde unter anderem der Blutzucker-, Insulin- und Fettspiegel im Blut gemessen. Dazu kamen die Daten über körperliche Aktivitäten, Schlaf, Hungergefühl, Zeitpunkt und Häufigkeit der Mahlzeiten und Informationen zum Gemütszustand der Probanden. Die ersten Ergebnisse zeigen: Auch wenn Probanden das Gleiche aßen, schwankten die Reaktionen von Zucker-, Insulin- und Fettstoffwechsel darauf enorm.

Spector erklärt: "Von den tausenden bisherigen Probanden, die identische Mahlzeiten zu sich nahmen, lagen die Reaktionen eines gewissen Teils nah am Durchschnittswert. Doch weniger als ein Prozent der Teilnehmer entsprach bei allen drei Werten, also Zucker, Insulin und Fett, genau dem Durchschnitt. Demnach können 99 Prozent aller Menschen keinem Durchschnittswert zugeordnet werden." Die größten Unterschiede sind laut Spector auf "die Zusammensetzung der Darmflora und auf die Gene zurückzuführen. Aber auch der Schlaf-Wach-Rhythmus, Bewegung und andere bisher noch unbekannte Größen sind mitverantwortlich."

30 pflanzliche Lebensmittel pro Woche

Mittlerweile gibt es vom Ernährungsprogramm Zoe auch eine Smartphone-App, "die auf Basis selbstlernender Algorithmen und individueller Angaben die Reaktion eines Menschen auf bestimmte Nahrungsmittel vorhersagen kann", sagt Spector. Aber auch ohne App sei es möglich, das Mikrobiom zu stärken.

Der Schlüssel dazu ist die Ernährung: "Jeder soll essen wie ein Gärtner", betont der Wissenschaftsautor. Genauer gesagt sollten etwa 30 verschiedene pflanzliche Lebensmittel pro Woche auf dem Teller landen. Das scheine nämlich genau die richtige Menge zu sein, um einen größtmöglichen Nutzen für die Mikroorganismen im Darm zu erzielen.

Dabei gehe es jedoch nicht darum, 30-mal in der Woche Grünkohl zu essen. Für den Experten liegt "der Schlüssel in der Vielfalt der Produkte. Denn jede Pflanze enthält unterschiedliche Nährstoffe, die verschiedene Arten von Mikroorganismen ernähren." Zu den 30 pflanzlichen Lebensmitteln zählen Gemüse und Obst, Hülsenfrüchte, aber auch Nüsse, Samen und Kräuter. Und Spector betont, dass "rote Linsen von gelben oder schwarzen Linsen zu unterscheiden sind und jeweils einzeln gezählt werden dürfen". Auch lila Karotten seien in ihrer Zusammensetzung anders als orange.

Und es darf farbenfroh sein. Denn: Pflanzen mit leuchtenden Farben "enthalten besonders viele Polyphenole, die zur Gruppe der Antioxidantien gehören". Sie gelten als entzündungshemmend und krebsvorbeugend. Spector erklärt: "Mittlerweile wissen wir, dass unser Körper allein nicht viel mit den Polyphenolen anfangen kann. Aber unsere Mikroorganismen brauchen sie, um zu wachsen." Und er erzählt weiter: "Wenn Sie also einen Salat kaufen, dann greifen Sie lieber zu einem mit kräftigen Grün- oder Rottönen statt zu einem fast weißen Eisbergsalat." Auch Schokolade, Kaffee, Rotwein und Nüsse haben einen hohen Polyphenolgehalt und zählen somit zu den "30 pro Woche".

Fermentiertes als Superbooster

Tim Spector, "Die Wahrheit über unser Essen". 320 Seiten. Dumont, 2022
Cover: Dumont Verlag

In Tim Spectors Kühlschrank findet man neben Gemüse außerdem auch viele fermentierte Produkte. Dazu zählen Naturjoghurt, Kefir, Käse aus Rohmilch, Sauerkraut, diverse Gemüse, Kimchi und auch Kombucha. Der Epidemiologe erzählt: "In London gibt es einen großen Kombucha-Trend. Viele kleine Hersteller haben sich darauf spezialisiert, das Getränk wieder auf natürliche Weise zu produzieren."

Und genau um diese natürliche Herstellungsweise gehe es. Denn nur wenn richtig fermentiert wird, entstehen die wichtigen Milchsäurebakterien. Industriell hergestelltes Sauerkraut etwa werde häufig mit Essig produziert – man sucht die Milchsäurebakterien vergebens. Und auch die Regelmäßigkeit sei wichtig: Am besten sei es, jeden Tag kleine Portionen fermentierter Lebensmittel zu sich zu nehmen, "statt einmal in der Woche eine riesige Portion zu essen".

Zu guter Letzt helfen Essenspausen den Mikroorganismen dabei, sich gut zu entwickeln. Zum Trend Intervallfasten – wenn man längere Essenspausen einlegt – sagt Spector: "Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass man dem Mikrobiom über Nacht eine lange Pause gönnen sollte. Es gibt keine genauen zeitlichen Vorgaben, aber alles über zwölf Stunden ist gut." Um die Pause zu vergrößern, könne man auch das Frühstück um ein bis zwei Stunden nach hinten verschieben oder gänzlich ausfallen lassen. "Der Mythos, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist, ist veraltet und wurde vor allem durch die Lebensmittelindustrie gepusht." (Jasmin Altrock, CURE, 9.10.2022)