Auf dem Gipfelkreuz sitzend, die Beine baumeln lassen: Johannes Krisch als der gealterte Elias in Adrian Goigingers Heimatdrama "Märzengrund" über einen zivilisationsmüden Naturrebellen.

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Aufi, aufi, aufi!" Nur ganz oben, in den Höhen der Tiroler Bergwelt, bekommt Elias endlich genug Sauerstoff in seine Lungen. Er kappt alle Bande zu seiner Familie und findet sein Glück in der Einsamkeit. Ein archaisches Sennerdasein, die Nähe zur Tierwelt genügen ihm. Ausgestreckt wie ein Bergluchs entspannt er dann auf dem Gipfelkreuz. Denn unten, und das heißt hier: unter Leuten, macht den sensiblen jungen Mann alles krank.

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Wer will, kann in dem Bauernsohn einen Wahlverwandten von Henry David Thoreau sehen, der sich in seinem Haus am Walden Pond Mitte des 19. Jahrhunderts von den Versprechungen der US-amerikanischen Industriegesellschaft losgesagt hatte.

Märzengrund, der neue Film des Salzburgers Adrian Goiginger, verbindet solche Zivilisationskritik jedoch mit der persönlichen Herzensbildung seines Helden. Für beides findet das Buch, eine Weiterführung von Felix Mitterers gleichnamigem Theaterstück, handfeste Motive. 1968, das ist in diesem Film ein Bergdrama: Die Revolte der Jugend richtet sich gegen die knorrige Familientradition, verkörpert von zwei allzu holzschnitzartig gezeichneten Elternteilen. Der geschäftstüchtige Vater (Harald Windisch) sieht in seinem Sohn (Jakob Mader) nur den Jungbauern, also den angestammten Erben für seinen Hof. Die engstirnige Mutter (Gerti Drassl) hält ihn mit grimmiger Fürsorge fest und verhindert sein Liebesglück.

Weniger lebendig

2017 hatte Goiginger mit Die beste aller Welten ein Langfilmfilmdebüt vorgelegt, das gleichsam aus dem Nichts zu kommen schien und zu einem der größten Publikumserfolge des heimischen Kinos der letzten Zeit geriet. Der Tonfall des Films war ungewöhnlich warm und versöhnlich.

Der damals 26-jährige Regisseur erzählte von seinem eigenen Aufwachsen mit einer drogenabhängigen Mutter; er unterschlug dabei nicht die Entbehrungen dieser schwierigen Kindheit, überraschend war jedoch, wie ihm zugleich ein Bild von unabdingbarer Liebe gelang.

In Märzengrund fällt es Goiginger deutlich schwerer, seine Bilder einer imposant-erhabenen Naturkulisse und der erstickenden Familienordnung mit Leben zu füllen. Statt in die Szenen involviert zu werden, bleibt man ihnen als Betrachter seltsam auf Distanz. Die romantische Begegnung mit der schon um ein paar Jahre und Erfahrungen älteren Moid – Verena Altenberger spielte schon die Mutter im Debütfilm – ist zu flüchtig hingeworfen, um die Tragweite zu rechtfertigen, die sie im Leben von Jakob erhält. Der Film behilft sich dann mit Empfindungsstereotypen: ein Dorfdiscotanz zur Schlagerschnulze, ein Kuss in nächtlich trübem Wasser, ein knapper existenzialistischer Dialog übers Fremdsein in der Welt.

Ähnlich unspezifisch bleibt Märzengrund, wo er in der Natur so etwas wie die Heimstatt seines Helden behauptet. In der titelstiftenden Alm, zu der ihn sein Vater ein halbes Jahr lang schickt, um zur Besinnung zu kommen, habe er seinen "Platz in der Gesellschaft" gefunden, sagt Jakob zwar und will von dort nicht mehr zurück.

Künstliche Anmutung

Doch von der Attraktion dieser Einsiedelei, ihrer körperlichen Dimension oder ihres Seelenheils vermittelt Goiginger meist keine zwingenden Bilder. In ihrer hochauflösenden Schärfe erscheinen sie künstlich und doppelt entrückt. Der Schnee glitzert dann so, als hätte es ins Studio gerieselt.

Märzengrund hat noch eine gegenwärtigere Handlungsebene, in der Johannes Krisch mit weißem Rauschebart den gealterten Elias verkörpert, der dann schon 40 Jahre im selbstgewählten Exil verbracht hat. Mit Krisch bekommt der Film festeren Boden unter den Bergschuhen, die Szenen mit seinem Almspezi – sie begrüßen einander stets mit "alter Mann" – wirken luftiger und entschiedener in der Realität verwurzelt. Dass der Eremit gelernt hat, auf das Rauschen des Gebirgsbachs zu hören, und ihm seine Erinnerung manchmal Streiche spielt, auch diese Szenen bekommt Krisch ganz überzeugend hin.

Doch Elias muss herunter vom Berg, und unten wartet dann auch die letzte Wendung dieses Familiendramas auf ihn. Der Eindruck, dass in Goigingers zweitem Film forcierte Gefühlswallungen gegenüber genauer Beobachtung triumphieren, bestätigt sich dabei leider noch einmal. (Dominik Kamalzadeh, 18.8.2022)