Chow Hang-tung ist seit September 2021 in Haft. Mahnwachen für die Opfer des Massakers am Tian'anmen-Platz wurden ihr zum Verhängnis.

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Auf den ersten Blick hört sich die Sache ziemlich technisch an: Ein Richter in Hongkong hat das Verbot der Berichterstattung über die Voruntersuchungen zu Prozessen mehrerer Dutzend Demokratieaktivistinnen aufgehoben. Am Mittwoch hatte er dies in Bezug auf den Fall um die Menschenrechtsanwältin Chow Hang-tung entschieden. Am Donnerstag folgte der Schritt für 47 weitere Angeklagte, unter ihnen zum Beispiel der bekannte Aktivist Joshua Wong.

Fast alle von ihnen sitzen seit Monaten im Gefängnis, manche in Untersuchungshaft, andere wurden bereits in separaten Prozessen verurteilt, hinter verschlossenen Türen. Alle warten aber auf weitere Prozesse infolge des 2020 in Kraft getretenen Nationalen Sicherheitsgesetzes.

So steckt hinter der aktuellen Entscheidung des Hongkonger Richters ein folgenschweres Gezerre um die Rechtsstaatlichkeit in der umstrittenen Sonderverwaltungszone Chinas. 1997 wurde Hongkong von Großbritannien an China zurückgegeben, mit der Übereinkunft, dass das semidemokratische System in Hongkong für zumindest 50 Jahre bestehen bleibe. Doch Peking hatte über die Jahre immer wieder versucht, die Finanzmetropole schneller an das Festland anzugleichen.

Immer wieder führte das zu Massenprotesten in der Stadt. Vor allem 2019 gingen wiederholt hunderttausende Menschen auf die Straßen, um gegen den wachsenden Einfluss Pekings zu demonstrieren. Die Bewegung wurde schließlich niedergeschlagen, vor allem mithilfe eines neuen Gesetzes, das gänzlich neue Rahmenbedingungen schuf: das Nationale Sicherheitsgesetz .

Illegale Kerzenmahnwachen für Tian'anmen-Opfer

Jenes Gesetz traf eben auch die 47 Aktivistinnen sowie die Menschenrechtsanwältin Chow Hang-tung. Seit September sitzt sie in Haft, weil Chow als Vizevorsitzende der NGO Hongkong Alliance 2020 und 2021 Kerzenmahnwachen für die Opfer des Massakers am Tian'anmen-Platz organisiert hatte. Solche Mahnwachen sind auf dem Festland verboten, im liberalen Hongkong waren sie aber die längste Zeit erlaubt. Die Hongkonger NGO organisierte seit Jahrzehnten die größten derartigen Veranstaltungen weltweit.

Mit dem Sicherheitsgesetz wird aber auch in Hongkong Ernst gemacht. Chow habe zu einer illegalen Versammlung aufgerufen, lautet die Anklage. Zu insgesamt 22 Monaten Haft wurde sie bereits verurteilt. In einer anderen Anklage muss sie sich aber auch wegen der Anstachelung zum Umsturz unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz verantworten. Es drohen bis zu zehn Jahre Haft. In diesem Fall starten die Voranhörungen Anfang September.

Ähnlich sehen die Fälle um die 47 Aktivistinnen aus. Ihnen wird angekreidet, 2020 Vorwahlen organisiert zu haben. Die Demokraten wollten noch vor den eigentlichen Lokalwahlen feststellen, wer denn die beliebtesten Kandidaten und Kandidatinnen wären, um diese dann ins Rennen zu schicken und so möglichst viele Sitze im Lokalparlament zu erringen. 600.000 Menschen nahmen an den Vorwahlen teil. Am Ende fanden die eigentlichen Wahlen nicht mehr statt, sehr wohl aber wurde den 47 ebenfalls Anstachelung zum Umsturz nach dem Sicherheitsgesetz vorgeworfen.

Mehr als 10.000 Festnahmen

Seit Inkrafttreten des Gesetzes im Juli 2020 sollen laut NGO Hong Kong Democracy Council 10.500 Menschen aus politischen Gründen festgenommen worden sein, 3.000 Menschen seien angeklagt worden. Seit 2019 soll es rund 1.000 politische Gefangene gegeben haben – im Vergleich: 2019 waren es bloß 26. Etwa die Hälfte ist wieder frei, der Rest ist weiter in Haft.

Ein Uno-Expertengremium hat vor kurzem überhaupt die Abschaffung des Gesetzes gefordert. Es sei "ohne Konsultation der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft" erlassen worden. Man sie zutiefst besorgt über die "zu weit gehende Auslegung und willkürliche Anwendung".

Erstmals dürfen Reporter dabei sein

Bisher wurde vielen der Festgenommenen eine Kautionsregelung untersagt, es gab kaum Informationen über ihre Anhörungen vor Gericht. So feierten Aktivisten und Aktivistinnen die nunmehrige Aufhebung des Verbotes als Durchbruch. Es wird nun zum ersten Mal Berichterstattung in Voruntersuchungen geben, die unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz verhandelt werden.

Zuvor hatte Richter Peter Law das Verbot so begründet gehabt, dass die Berichterstattung "mentalen Druck" auf die Zeugen und Zeuginnen ausüben könne. Das Oberste Gericht wies dies aber zurück. Im Sinne einer "offenen Justiz" müsse die Berichterstattung erlaubt werden. Daher revidierte Law seinen Entscheidung und hob das Verbot auf. Er präzisierte: "Hongkong ist ein zivilisierter Ort … mit Rechtstaatlichkeit. Diese öffentliche Debatte wird nicht die Entscheidung des Gerichts beeinflussen."

Wie offizielle Jahresstatistiken offenlegen, kam es im vergangenen Jahr zur stärksten Abwanderung aus Hongkong seit Beginn der Aufzeichnungen 1961. Offiziell wird das mit Covid-19 und einer natürlichen Abnahme, also mehr Todes- als Geburtsfällen, erklärt. Einige Länder, allen voran die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien, haben Hongkongern die Einwanderung um vieles leichter gemacht. (Anna Sawerthal, 18.8.2022)