Bereits Mitte Juli kam es zu einem Treffen zwischen Guterres und Erdoğan (rechts vorne). Auch die Verteidigungsminister Russlands und der Türkei waren bei dem Treffen in Istanbul dabei.

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Wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Donnerstag auf Einladung des ukrainischen Präsidenten in Lwiw mit Wolodymyr Selenskyj und UN-Generalsekretär António Guterres zusammentrifft, sieht er sich in seiner derzeit liebsten Rolle bestätigt: als erfolgreicher Vermittler und möglicher Friedensstifter in Russlands Krieg gegen die Ukraine. Ausgezeichnet durch den Erfolg bei der Wiedereröffnung ukrainischer Häfen für Getreideexporte in alle Welt, hofft Erdoğan nun, den nächsten Schritt machen zu können: ein Forum für direkte Gespräche zwischen Russland und der Ukraine zu schaffen, in dem möglichst unter türkischer Vermittlung die nächsten Schritte für Verhandlungen ausgelotet werden können. "Unser Ziel ist Frieden zwischen Russland und der Ukraine", hieß es vor Erdoğans Abflug nach Lwiw in einer Mitteilung aus dem Präsidentenpalast.

Obwohl nahezu alle Beobachter davon ausgehen, dass der Zeitpunkt für direkte Gespräche zwischen Russland und der Ukraine noch längst nicht gekommen sei, setzt Erdoğan doch unverdrossen auf Verhandlungen – und zwar schon seit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar. Tatsächlich gelangen ihm in den ersten Kriegswochen zwei Achtungserfolge, als sich Ukrainer und Russen in der Türkei trafen, und auch die Implementierung des Getreidedeals, den vor allem im Westen viele für nicht möglich gehalten hatten, bestätigte Erdoğan in seinen Vermittlungsbemühungen.

Drahtseilakt zwischen Ost und West

Mit Beginn des Krieges stand die türkische Regierung scheinbar vor einem unüberwindbaren Dilemma. Sich rückhaltlos auf die Seite der Ukraine zu schlagen hätte bedeutet, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu kappen und die Zusammenarbeit in Syrien zu beenden. Beides wäre für Erdoğan zu einem Desaster geworden.

Andererseits konnte er keinen Bruch mit der Nato und dem Westen riskieren. Aus diesem Dilemma entstand die Vermittlerrolle. Statt sich für eine Seite zu entscheiden, bot Erdoğan seine guten Dienste als Moderator an und versuchte, sein Land ansonsten weitgehend neutral zu halten. Bislang hat das gut geklappt, er wird von beiden Seiten akzeptiert – und auch wenn innerhalb der Nato angesichts der uneingeschränkten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, von denen die Türkei gerade sehr profitiert, so mancher vor allem in Deutschland mit den Zähnen knirscht, wird er doch nicht offen kritisiert. Möglichst früher als später wird man ja eine diplomatische Vermittlung brauchen.

Neue Karten im Nahen Osten

Bei seiner neuen Rolle spielt Erdoğan in die Karten, dass sich die Türkei nicht nur im Krieg zwischen Russland und der Ukraine als Nachbar beider Staaten als Vermittler anbietet, sondern auch im Nahen Osten die Karten gerade neu gemischt werden. Die Wiederaufnahme voller diplomatischer Beziehungen mit Israel gehört dazu, aber auch in Syrien bahnt sich eine Zeitenwende an.

Erdoğan, der sich in den letzten Jahren durch seine aggressive Politik im östlichen Mittelmeer mehr und mehr isoliert hatte, wollte schon länger die Beziehungen zu Israel wieder verbessern. Seit dem Abgang des ihm persönlich verhassten Benjamin Netanjahu wurde verstärkt daran gearbeitet. Da Israel in der gesamten Region dringend Verbündete gegen den Iran sucht, war die neue Regierung auch gewillt, auf die türkischen Avancen einzugehen. Wahrscheinlich wird sich Erdoğan demnächst als Vermittler zwischen der Hamas und Israel anbieten.

Schwenk in Syrien

Ein noch größerer Schwenk könnte in Syrien bevorstehen. Bei dem letzten Treffen zwischen Erdoğan und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Anfang August in Sotschi hatte Putin seinen Besucher offenbar dringend aufgefordert, endlich mit dem syrischen Diktator Assad zusammenzuarbeiten, statt erneut in Nordsyrien einzumarschieren.

Putins Drängen hat bereits Früchte getragen. Ende letzter Woche forderte der türkische Außenminister die syrische Opposition auf, sich langsam, aber sicher mit dem Regime zu versöhnen. In den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien kam es zu Protesten der bislang mit Erdoğan verbündeten Milizen. Die Syrer fühlen sich verraten, türkische Flaggen wurden verbrannt.

Dennoch legte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu Anfang der Woche noch einmal nach, eine politische Lösung sei überfällig. Dabei gab er auch bekannt, dass er sich im November letzten Jahres bereits einmal mit dem syrischen Außenminister am Rande einer Konferenz in Belgrad getroffen habe. Erdoğans nächste Vermittlerrolle könnte sich also zwischen der syrischen Opposition und dem Regime in Damaskus abspielen, vorausgesetzt, die Kurdenfrage in Syrien wird dabei in seinem Sinne gelöst. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 18.8.2022)

Seit Monaten besetzen russische Streitkräfte das Kernkraftwerk im südukrainischen Saporischschja. Der UN-Sicherheitsrat und die Nato befürchten einen nuklearen Unfall und drängen auf eine Inspektion des Kraftwerks.
DER STANDARD