Seit Juni ist #MeToo in Österreich wieder präsent – vor allem in der Kulturbranche. In Frankreich kämpft das Kollektiv #MeTooTheatre gegen Übergriffe am Theater.

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Seit Juni gibt es in Österreich vermehrt Berichte über Machtmissbrauch und Übergriffe in der Kulturbranche sowie in Ausbildungsstätten für angehende Künstler:innen. Im kleinen Österreich kennt man sich in dieser Branche, es sei "wie in einer Familie", hört man etwa oft über die Arbeit an Filmsets. Was diese familiäre Atmosphäre für Betroffene von Übergriffen bedeuten kann, das weiß Heidi Kastner, Expertin im Bereich der forensischen Psychiatrie. Sie war in ihrer langen Karriere auch als Gerichtspsychiaterin mit Fällen wie dem von Josef Fritzl oder solchen von Missbrauch in der Kirche befasst.

STANDARD: Wie funktioniert dieses System des Wegschauens und des Sich-Schönredens von Übergriffen und Machtmissbrauch in Strukturen, wo Übergriffe leicht stattfinden können?

Kastner: Das ist eine spannende Frage. Auch: Warum braucht es die Öffentlichkeit, um das abzustellen? Wieso reicht es nicht, wenn innerhalb der Strukturen jemand sagt, da benimmt sich einer übergriffig? Da werden offenbar die Reihen dichtgemacht. Diese Systeme funktionieren immer so lange, wie das Wegschauen – für die, die es machen – einen Vorteil hat. Das ist in Familien ja nicht anders, wenn man in diese Analogie geht. Wie funktioniert es dort? Wegschauen erhält halt dann die Familie und auch ihre Strukturen, sprich das Haus, das gesicherte Einkommen, das gesicherte Fortkommen, das Ansehen oder was auch immer man dann darunter verstehen will. Scheidungen sind bekanntermaßen kein finanzieller Booster für alle Beteiligten. Und das wird am Set noch viel ärger sein. Das sind ja häufig prekäre Verhältnisse, wo man von Projekt zu Projekt lebt und wo es darum geht, dass man auch für das nächste Projekt engagiert wird. Da ist die Gruppendynamik nicht einmal so das Thema, sondern die individuelle Vorteilssuche.

STANDARD: Wie kommt man dann aus der Nummer jemals wieder raus?

Kastner: Das ist schwierig. Die Forderung, eine Änderung zu initiieren, müsste man in erster Linie an potente Teilnehmer richten, an solche, die nicht Angst haben, dass sie viel riskieren oder verlieren. Denn das sind die, die auch am gefahrlosesten etwas machen können. Relevante Schauspieler, Regisseure, die so etabliert sind, dass die Gefahr für sie selbst nicht groß ist, haben aus meiner Sicht die größte Verantwortung. Die müssen intervenieren. Das gilt ganz allgemein: Wenn Männer sexistische Witze machen oder sich irgendwelchen jungen Frauen, die das offensichtlich nicht prickelnd finden, nähern, dann habe ich es eigentlich noch nie erlebt, dass ein Mann interveniert hat. Mir fehlt die Positionierung der Männer.

Heidi Kastner: "Von selbst ändert sich gar nichts."
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STANDARD: Wie lange dauert grundsätzlich eine gesellschaftliche Veränderung? Früher hätte man beispielsweise noch ein Kind öffentlich ohrfeigen können, das ginge heute nicht mehr.

Kastner: Das Problem ist weiter gefasst: Wie darf ein Mann mit einer Frau umgehen? Das ist ja ein viel breiter aufgestelltes Thema. Das dauert in der Regel Generationen, in der Mehrzahl. Wir kommen aus einer 2.000-jährigen Geschichte männlicher Hegemonie, das ist ein Faktum, das ist eine festgeschriebene männliche Vorherrschaft, die von allen bestimmenden Institutionen getragen wurde. Ich habe erst kürzlich bei einer von kirchlicher Seite organisierten Tagung vorgetragen, wo ein Mann ganz erstaunt vorgebracht hat, dass jetzt auch Frauen austreten, die "man gekannt hat und die vorher Kuchen gebracht haben". Dabei muss man eigentlich fragen, wie und ob man sich als Frau in einer Gemeinschaft positionieren soll, die a priori Frauen wegen ihres Geschlechts von allen relevanten Positionen ausschließt.

STANDARD: Was müssen wir tun, wenn wir nicht noch generationenlang warten wollen?

Kastner: Von selbst ändert sich gar nichts. Ich habe vor Corona immer wieder mit Maturaklassen Exkursionen in die Forensik gemacht, wo ich ihnen zwei Stunden lang Rede und Antwort gestanden bin. Da kamen immer nette, manierliche, etwas eingeschüchterte Maturaklassen, die ehrfurchtsvoll um einen Tisch herumsaßen mit ihren Fragen, und wie das Amen im Gebet kam irgendwann einmal von einem jungen netten Mann die Frage: "Wie bringen Sie Beruf und Familie unter einen Hut?" Ich hab ihn dann immer angeschaut und hab ihn gefragt, würden Sie das einen Mann auch fragen?

STANDARD: Gibt es so etwas wie Warnsignale dafür, wie man Situationen erkennen kann, in denen ein Übergriff passiert?

Kastner: Man sollte sehr sensibel sein für so alltägliche, "belanglose" Dinge, in denen sich diese Rollenklischees äußern. Ins Wort fallen, nicht ausreden lassen, dieses ganze "Jetzt sag ich dir einmal was, jetzt erklär ich dir einmal was", Mansplaining nennt man das inzwischen, wo Männer sagen, du kleines Würschtel, jetzt erklär ich dir einmal die Welt. Aber es fängt schon an beim Nicht-ausreden-Lassen oder dabei, wenn eine Frau etwas sagt, einfach drüberreden. Was Frauen dann machen, ist: Sie hören auf zu reden. Wenn mir ein Mann ins Wort fällt, dann rede ich einfach weiter und werde lauter. Weil sonst verlässt man die Bühne. Da kann man auch am eigenen Verhalten etwas ändern. Aber das sind die geringsten Red Flags. Der nicht wertschätzende Umgang in Konfrontationen, in Diskussionen, in ganz harmlosen Situationen, wo noch niemand sagt: "Du bist ja eine Frau, und du hast ja nichts im Hirn." Respektloses Verhalten ist ein Warnsignal.

STANDARD: Was hilft konkret an einem Set?

Kastner: Ich glaube, im Zusammenrotten läge halt auch ein gewisses Potenzial. Man könnte sich zusammenreden und sagen, das ist ein Umgang, der ist nicht akzeptabel. In der Menge hätte das schon mehr Pouvoir, es ist ja auch nicht so lustig, wenn man die gesamte dritte Reihe am Set auf einen Schlag austauschen muss. Das kostet Geld, bringt das Budget durcheinander.

STANDARD: Ganz eine andere Frage: Nehmen sich übergriffige Täter selbst als solche wahr? Kann man das vergleichen mit Missbrauchstätern?

Kastner: Nein. Bei Missbrauch in einer Familie reden wir von Dingen, die dem Täter ganz klar als strafrechtlich relevant bekannt sind. Worüber wir hier reden, das ist ja meist unter dieser Schwelle. Das ist eine ganz andere Dimension. Was man halt tut als der, der es macht, ist, dass man es sich schönredet. "Das war nur ein Spaß", "Das hat ihr eh gefallen, sie hat ja gelacht". Oder: "Mein Gott na, das kommt halt einmal vor, wenn man so eng beinander steht." So haben sie einen Grund, warum das für sie eh okay ist. Das können sie vor sich selbst so lange aufrechterhalten, wie sie nicht laufend rückgemeldet kriegen, dass es nicht okay ist. Und auch von Männern und ganz wesentlich von Männern, weil gerade solche Leute halten ja noch mehr drauf, was Männer sagen. Deshalb ist auch die Rückmeldung von Männern so essenziell.

STANDARD: Es heißt immer wieder, man muss die künstlerische Arbeit vom Menschen trennen, das "Genie" vom übergriffigen Verhalten. Was sagen Sie dazu?

Kastner: Das ist ja eine weitere grundlegende Debatte. Da denke ich etwa an Otto Muehl und daran, dass mittlerweile klar ist, was er war und was er gemacht hat. Im Dorotheum werden bei irgendwelchen Moderne-Kunst-Auktionen laufend Bilder von Muehl versteigert, und es gibt immer wieder Bilder, die ich ansprechend finde, aber ich würde von ihm nichts bei mir hängen haben wollen. Aber die Frage stellt sich halt nur bei der zeitgenössischen Kunst, bei Caravaggio sagt niemand, von einem Mörder häng ich mir nichts auf.

STANDARD: Interessant ist auch, dass sich halt ausgerechnet in einer Kommune, wo es angeblich um die Befreiung der Sexualität ging, wieder alles einem Mann untergeordnet hat.

Kastner: Aber wer gründet Kommunen? Jede Kommune, die darauf abzielt, dass die Selbstbestimmung der Mitglieder gebrochen oder ad acta gelegt wird, hat immer nur den Machtmissbrauchszweck. Wozu sollte ich sonst die Leute hinter meiner Flagge versammeln und sagen: "Das Hirn gebt ihr bitte beim Eingang ab, ab jetzt denke ich."? Da gibt es keine andere Intention dahinter, als sich in eine Machtposition zu bringen und die ungestört auszuleben, und zwar wurscht, ob Männlein oder Weiblein die Führung innehaben. Vor allem in sektenartigen Gemeinschaften reißen sich auch viele Frauen diese Position unter den Nagel.

STANDARD: Ist es nicht für den Menschen auch verführerisch, wenn jemand für ihn denkt?

Kastner: Das ist immer eine Frage der persönlichen Reife und des persönlichen Standings. Da sind wir wieder bei der Frage, wie sich Leute entwickeln. Ganz eliminieren können wird man es nicht, weil es offenbar auch zur menschlichen Natur gehört, dass man sich bisweilen gern unterordnet und auch dass man nach Macht strebt. Man kann nur die Wahrscheinlichkeit solcher Machtmissbrauchssituationen verringern, nicht das Faktum an sich. (Julia Pühringer, 22.8.2022)