Wer ohne Radfahrkultur aufwächst, nutzt das Transportmittel auch später eher selten. Dabei bietet es diverse Vorteile.
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Der Fahrtwind weht angenehm um die Ohren, das gesunde Strampeln regt Muskeln wie auch Kreislauf an – und beim Gedanken an zusammengepferchte Menschenmengen in Bus und Bahn stellt sich ein Gefühl ein, das zwischen Erleichterung und Schadenfreude oszilliert. Fahrradfahren hat viele Vorteile. Den Umweltbewussten ist auch längst klar, dass sie Schadstoffemissionen einsparen, wenn sie zugunsten der Radfahrt auf das Auto verzichten.

Doch nicht alle, die sich ein Fahrrad angeschafft haben, nutzen es auch ausgiebig, wie eine aktuelle Studie im Fachjournal "Communications Earth & Environment" untermauert. In den meisten Ländern werden weniger als fünf Prozent der täglichen Fahrten per Rad zurückgelegt. Das ist sehr wenig, wenn man bedenkt, dass der Transportsektor weltweit für ein Viertel der auf Kraftstoffnutzung zurückgehenden Treibhausgasemissionen sorgt. Die Hälfte der Transportemissionen geht auf das Konto von Privatfahrzeugen, darunter Pkws und Lkws.

Freilich können nicht alle Strecken jederzeit mit dem Drahtesel bezwungen werden. Doch um herauszufinden, wie viel sich einsparen ließe, startete ein internationales Forschungsteam um Gang Liu von der Süddänischen Universität in Odense seine Analysen. Es berechnete, wie viele der Zweiräder weltweit produziert, besessen und auch tatsächlich genutzt werden – in einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren, von 1962 bis 2015. Dabei handelt es sich den Fachleuten zufolge um den ersten globalen Datensatz zum Thema.

Fahrräder in und aus China

Eine der überraschenden Erkenntnisse: In der untersuchten Zeitspanne nahm die Produktion von Fahrrädern global stärker zu als die von Autos. Mehr als 123 Millionen Fahrräder wurden im Jahr 2015 gebaut – im Gegensatz zu gut 70 Millionen Autos. Die meisten sind in der jüngeren Vergangenheit "made in China": Dort entstanden im selben Jahr fast zwei Drittel aller Fahrräder. Weit dahinter abgeschlagen sind die produzierenden Firmen in den Ländern Brasilien, Indien, Italien und Deutschland. Sie machen zwei bis fünf Prozent aus.

In China ist generell auch der Bestand an Rädern der größte, hier befinden sich 24 Prozent aller Fahrräder. Auch in den USA, Indien, Japan und Deutschland besitzen viele Menschen Fahrräder. Diese Top-Five-Liste sieht nur ein wenig anders aus, wenn es um Autos geht: Dann liegen die USA auf Platz eins vor China, Indien ist nicht mehr in der Liste, dafür folgt auf Deutschland Russland.

Durchschnittlich besitzt fast jeder dritte Mensch ein Fahrrad, in Europa sind die Werte höher als in anderen Regionen. In Dänemark haben mit 95 Prozent beinahe alle mindestens ein Fahrrad. In vielen Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen besitzen weniger Personen Räder.

Vorbildlich: Dänemark und Niederlande

Allerdings würde der Klima- und Umweltschutz stark davon profitieren, wenn mehr Menschen Rad fahren – und damit auch die oftmals stehengelassenen Räder nutzen – würden. Wenn alle Menschen auf der Erde täglich nur eine relativ kurze Strecke per Rad statt mit privaten Fahrzeugen zurücklegen würden, ließen sich Kohlenstoffemissionen im Ausmaß derer Großbritanniens einsparen, berechnete das Team. In Zahlen: Wenn alle 1,6 Kilometer täglich mit dem Fahrrad führen, läge das jährliche Einsparpotenzial bei 414 Millionen Tonnen Kohlenstoffemissionen.

So intensiv nutzt man das Transportmittel bereits in Dänemark. Noch besser schneidet die Bevölkerung der Niederlande ab, denn im flachen Küstenstaat werden pro Person etwa 2,6 Kilometer am Tag mit dem Rad gefahren. Das würde natürlich weltweit umgesetzt noch mehr Emissionen sparen, nämlich 686 Millionen Tonnen im Jahr. Das entspricht etwa 86 Prozent der jährlichen Kohlenstoffemissionen Deutschlands – oder 20 Prozent der weltweiten Emissionen, die Privatautos und -transporter verursachen.

Todesfälle vermeiden

Auch auf die gesundheitlichen Vorteile geht das Forschungsteam ein. Demnach werden bei der aktuellen Radnutzung etwa 170.000 frühzeitige Todesfälle vermieden. Dies zeigt ein Berechnungsmodell der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Bei den Gedankenexperimenten, in denen global das gleiche Muster wie in Dänemark oder den Niederlanden angewandt werden wird, kommt man sogar auf 340.000 beziehungsweise 620.000 vermiedene Todesfälle. Hier wurde auch ein weiterer Faktor eingerechnet – nämlich die Tatsache, dass es durch vermehrtes Radfahren auch zu mehr Verkehrstoten käme, weil die Fahrbedingungen in vielen Ländern nicht immer sicher sind.

Dies zeigt bereits, dass die Verhältnisse nicht überall auf der Erde mit den beiden vorbildlichen Ländern vergleichbar sind. Doch das liegt mitunter an Faktoren, auf die Menschen großen Einfluss haben. Eine weltweit fahrradfreundliche Politik und die Entwicklung der Infrastruktur – ähnlich wie in Dänemark und den Niederlanden – könnten erhebliche ungenutzte Klimavorteile bringen, schreibt das Forschungsteam.

Dazu wären nicht nur gut geplante und gebaute Fahrradwege notwendig. Es ist dem Team zufolge etwa auch nötig, schon von klein auf die Nutzung von Fahrrädern zu fördern und zu kultivieren sowie Steuern einzuführen, die Menschen vom Autofahren abschrecken. Ohne einen derartigen Fokus lassen sich viele bequeme Menschen, die körperlich zum Radfahren fähig sind, künftig kaum zu einem Umschwung vom Pkw zum Rad verleiten – nicht einmal dann, wenn das Wetter es gut zuließe. (Julia Sica, 19.8.2022)