Unter dem Hashtag #StupidMentalHealthWalk zeigen Tiktok-Userinnen und -User, wie sie genervt spazieren gehen.

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Es begann im Zeitalter der Zoom-Partys, Bananenbrote und Home-Workouts: Während Jugendliche noch versuchten, aus Distance-Learning und eingeschränkten Freizeitmöglichkeiten das Beste zu machen, wurden schon bald die ersten Studien publiziert. Kinder und Jugendliche leiden psychisch enorm unter Lockdowns und Schulschließungen, hieß es. Fachleute warnten vor einem Anstieg an depressiven Erkrankungen und Angststörungen bei der jungen Generation – und gemahnten, wie auch Politiker in Pressekonferenzen, immer wieder an den täglichen Spaziergang. Man sollte doch trotz Lockdowns zumindest eine kleine Runde pro Tag spazieren gehen und sich die Füße vertreten.

Spazieren gehen und es dabei hassen

Genau das machten Jugendliche, hassten es und filmten sich dabei. Aus dem angeratenen täglichen Spaziergang wurde in der Gen Z der "stupid walk for the stupid mental health", mittlerweile wurden auf der Plattform Tiktok unter dem Hashtag #StupidWalkChallenge bereits 73,9 Millionen Videos gepostet:

Übersetzt man den englischen Hashtag der Tiktok-Challenge, wird daraus der depperte Spaziergang für die depperte psychische Gesundheit, aus dem man durchaus eine Mischung aus Amüsement und Frust rauslesen kann.

Amüsement deshalb, weil viele scheinbar die positiven Auswirkungen der täglichen Spaziergänge gespürt haben – und sich das trotzig eingestehen müssen. "Ist das verdammte Geheimnis für ein glückliches Leben einfach ein langer Spaziergang am Morgen? Soll das ein Witz sein?", schreiben etwa Userinnen und User unter dem Hashtag auf Twitter.

Und Frust, weil auch die positiven Aspekte von Spaziergängen freilich keine strukturellen Mängel zur Verbesserung mentaler Gesundheit aufwiegen können: Nicht so sehr das Spazierengehen an sich wird gehasst, sondern das Fehlen von Alternativen. Durch Corona und die Folgen ist die psychische Gesundheit in den Fokus gerückt, aber es mangelt an entsprechendem Angebot, wie sowohl Jugendliche als auch Fachleute kritisieren. Von der Krankenkasse finanzierte Psychotherapieplätze sind kontingentiert und die Wartelisten lang. Wer rasch Hilfe braucht, muss oftmals für private Betreuung tief in die Tasche greifen. Nicht alle können sich das leisten.

Spazieren schüttet Glückshormone aus

Was für alle zugänglich bleibt, ist also nur der "depperte Spaziergang": "Das Gehen an der frischen Luft wirkt sich nachweislich positiv auf unsere Lebenszufriedenheit, unser Glück, unser Selbstwertgefühl, unsere Stimmung und unser Wohlbefinden aus", sagt Charlotte Armitage, Psychologin und Mental-Health-Expertin von Weward, einer App, die Nutzerinnen und Nutzer mit Gutscheinen und anderen Benefits zum Gehen motivieren soll. Einige Untersuchungen würden sogar zeigen, dass ein täglicher 30 Minuten langer Spaziergang an der frischen Luft bei der Behandlung leichter bis mittelschwerer Depressionen ebenso wirksam sein kann wie Antidepressiva.

Das liegt an den Neurotransmittern, die bei Bewegung und Frischluft im Gehirn freigesetzt werden. Beim Gehen werden die sogenannten Glückshormone Dopamin und Endorphine ausgeschüttet. Bei Sonnenlicht kommt Serotonin hinzu, ein chemischer Stoff, der ebenso zum Wohlbefinden beiträgt. "Darüber hinaus wird das Gehirn beim Gehen, vor allem im Freien, durch das parasympathische Nervensystem geleitet, das die Menge an Cortisol und Adrenalin, die in unseren Blutkreislauf gepumpt wird, reduziert", erklärt die Expertin. Cortisol und Adrenalin bereiten uns eigentlich darauf vor, auf Bedrohungen in der Umwelt zu reagieren, und können dazu führen, dass wir uns ängstlich und gestresst fühlen. "Eine Überstimulierung des sympathischen Nervensystems ist in der modernen Welt aufgrund der vielen Auslöser in unserer Umwelt, insbesondere im Zusammenhang mit der Technologie, weitverbreitet. Ein Spaziergang im Freien, weit weg von der Technologie, kann daher eine deutlich beruhigende Wirkung auf unseren Geist und Körper haben", sagt Armitage.

"Jede Bewegung besser als keine"

Auf Tiktok zeigen sich viele auf ihrem "stupid mental health walk" mit Kopfhörern, aber die beste Wirkung hätte der Spaziergang ohne Musik oder Podcast im Ohr, rät die Psychologin: "Das, was wir als hilfreich für unsere psychische Gesundheit empfinden, ist unterschiedlich. Nichtsdestotrotz ist es sehr wahrscheinlich, dass die therapeutische Wirkung des Gehens am besten zum Tragen kommt, wenn man sich mit allen Sinnen auf die Umgebung einlassen kann." Für das Wohlbefinden sei es wichtig, die Umgebung um uns herum richtig wahrzunehmen und die Verbundenheit zu spüren. Das gilt genauso auch für Menschen um uns herum: "Wenn wir mit einer anderen Person spazieren gehen, stärken wir zusätzlich unsere sozialen Beziehungen. Das kann auch positiven Einfluss auf unsere mentale Gesundheit haben", sagt Armitage.

Man sollte die Bedeutung von kurzen Spaziergängen zwar nicht überbewerten, weil sie wohl nicht zu einer langfristigen Verbesserung der Gesundheit führen können. Dennoch habe ein kurzer Spaziergang in jedem Fall eine bessere Wirkung auf unsere mentale Gesundheit als kein Spaziergang, so die Expertin: "Jede Art von Bewegung ist besser als gar keine." (poem, 19.8.2022)