Für die Journalistin Alexia Weiss ist Österreichs Schulsystem nicht zu retten. In ihrem Gastkommentar schreibt sie, was es an seiner statt brauchen würde.

Wie wäre es, wenn demnächst wieder das Schuljahr startet, jedes Kind einen Coach zur Seite gestellt bekommt, der es durch seine Schullaufbahn begleitet, der sicherstellt, dass es dort Unterstützung bekommt, wo es sich schwertut, und dort gefördert wird, worin es stark ist? Wie wäre es, wenn es keine Bildungsentscheidung mehr im Alter von zehn Jahren gäbe, sondern stattdessen eine Schule für alle, die allerdings wesentlich stärker als derzeit auf Individualisierung setzt? Wie wäre es, wenn Lehrer und Lehrerinnen in der Schule einen Arbeitsplatz vorfinden, an dem sie nicht nur unterrichten, sondern auch in Ruhe korrigieren, die nächste Stunde vorbereiten, sich mit Eltern sowie Kollegen und Kolleginnen besprechen können? Wie wäre es, wenn diese Lehrpersonen Schüler und Schülerinnen nicht mehr beurteilen müssen, sondern ihre Aufgabe nur noch darin besteht, sie bestmöglich zu unterrichten?

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Bald geht die Schule wieder los: Wie wäre es, wenn Lehrkräfte die Kinder nicht mehr beurteilen müssen?
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Müssen tatsächlich alle Schüler und Schülerinnen einer Klasse bis zum Pflichtschulabschluss oder der Matura dieselben Fächer in demselben Umfang absolvieren? Wenn Kinder und Jugendliche über zwölf (an AHS) oder 13 (an BHS) Jahre regelmäßig Leistungsüberprüfungen absolvieren, ist es dann tatsächlich nötig, sie am Ende noch einmal einen Prüfungsreigen durchlaufen zu lassen, damit sie ein Maturazeugnis bekommen? Braucht es wirklich für alle Studien dasselbe Level in Englisch, Mathematik oder Physik?

Und andererseits: Warum kann das Essensangebot an Schulen nicht selbstverständlich gesund gestaltet werden? Warum werden nach wie vor manche Fremdsprachen als wertvoller als andere eingestuft? Wäre es nicht vielleicht sogar am Arbeitsmarkt nützlicher, Türkisch, Arabisch oder Kroatisch in Wort und Schrift zu beherrschen als Französisch, Spanisch oder Italienisch? Warum hier also nicht das Potenzial von Kindern nutzen, die aus dem Elternhaus bereits eine dieser Sprachen mitbringen? Und warum fühlt sich Schule für so vieles, was Kinder am Lernen hindert und behindert, einfach nicht zuständig?

"Das Ermöglichen muss ins Zentrum der schulischen Bemühungen gestellt werden – das Ermöglichen von Bildungslaufbahnen, ungeachtet der elterlichen Mithilfe, aber auch das Ermöglichen, die eigenen Stärken und Interessen zu vertiefen."

Dass Chancengleichheit im Schulsystem dringend nottut, darüber wird in Österreich seit Jahrzehnten diskutiert. Doch ideologische Grabenkämpfe verhindern, dass hier endlich eine umfassende Reform gelingt. Und eine solche Reform muss groß sein: Das Schulsystem in seiner derzeitigen Konzeption gehört ad acta gelegt und völlig neu gedacht. Ja, das erfordert Mut. Das erfordert aber vor allem den Willen, Denkverbote in jede Richtung zu unterlassen.

Das Ermöglichen muss ins Zentrum der schulischen Bemühungen gestellt werden – das Ermöglichen von Bildungslaufbahnen, ungeachtet der elterlichen Mithilfe, aber auch das Ermöglichen, die eigenen Stärken und Interessen zu vertiefen. Bildungserfolg wird im österreichischen Schulsystem immer noch vererbt. Wessen Eltern über einen Hochschulabschluss verfügen, der hat höhere Chancen, an eine AHS zu wechseln und später selbst an einer Universität oder Fachhochschule zu studieren, als eine Schulkollegin, deren Eltern nur über einen Pflichtschulabschluss verfügen. Hier braucht es endlich ein brauchbares Konzept, um jedem Kind den jeweils bestmöglichen Zugang zu Bildung zu ermöglichen.

Gleichzeitig muss Schule die Verantwortung dafür übernehmen, dass jeder Bildungsabschluss, egal ob es sich um den Pflichtschulabschluss, eine Lehrausbildung oder die Matura handelt, auch tatsächlich Qualifikationen mit sich bringt. Betriebe finden keine Lehrlinge, da die Bewerberinnen und Bewerber – die ja über einen Pflichtschulabschluss verfügen müssen – die dafür nötigen Skills nicht besitzen. Das soll heißen: Sie scheitern am fehlerfreien Verfassen einer Mail oder schaffen es nicht, einfache Prozentrechnungen zu lösen. In Wien sind zurzeit beispielsweise noch an die 2000 Lehrstellen unbesetzt.

Versperrte Türen

Schüler und Schülerinnen also beispielsweise durch den Pflichtschulabschluss zu hieven, um ihnen keine Steine in den Weg zu legen, ohne dass sie das, was sie können müssten, tatsächlich beherrschen, versperrt ihnen mehr Türen, als es sie weiterbringt. Irgendwann geben sie die Lehrstellensuche auf, finden Gelegenheitsjobs und solche, für die es keine Ausbildung braucht. Damit entgehen dem Arbeitsmarkt allerdings potenzielle Fachkräfte. Alles hängt mit allem zusammen – und Bildung bildet das Fundament, wobei Bildung nicht erst in der Schule, sondern schon viel früher beginnt.

Ein Neudenken von Schule muss daher den Kindergarten miteinbeziehen. Wer im Kindergarten gut gefördert wird, wird sich in der Schule später leichter tun. Dazu braucht es allerdings ausreichend Pädagoginnen und Pädagogen wie auch kleinere Gruppen. Der Mangel an Personal in der Elementarpädagogik ist seit Jahren Thema, die Rahmenbedingungen der Arbeit sind die Hauptgründe, warum viele nicht in dem Beruf verbleiben. Ähnliches bahnt sich nun auch in der Schule an.

Ziehen wir doch die Notbremse, bevor das System gar nicht mehr funktioniert. Und bauen wir es viel besser, viel zeitgemäßer, viel innovativer – im Sinn der Kinder, im Sinn der Eltern und im Sinn aller im Schulsystem Beschäftigten. (Alexia Weiss, 19.8.2022)