Offiziell wird das Ereignis für den 15. November vorhergesagt. Aber womöglich ist es bereits in den letzten Wochen passiert: Laut dem im Juli veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung an diesem Tag die Acht-Milliarden-Marke überschreiten. "Es kann gut sein, dass wir jetzt schon dort angelangt sind", sagt Wolfgang Lutz und erklärt das mit fehlenden Daten: "In Indien war die letzte Volkszählung 2011, und in vielen Ländern in Afrika hat man noch weniger neue Daten."

Der international renommierte Demograf, der mit dem von ihm 2010 in Wien gegründeten Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (WIC) eines der weltweit führenden Forschungsinstitute für Bevölkerungswissenschaften leitet, geht jedenfalls davon aus, dass die Acht-Milliarden-Schwelle irgendwann in der zweiten Jahreshälfte überschritten wird – oder eben: bereits wurde.

Laut den aktuellen Schätzungen wird Indien mit aktuell fast 1,42 Milliarden Einwohnern demnächst China als bevölkerungsreichstes Land der Erde ablösen. Auch diese Wachablöse könnte bereits passiert sein.
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Etwas Ähnliches gilt für die Spitzenposition des bevölkerungsreichsten Landes der Welt: Indien, das laut aktueller Schätzung bereits mehr als 1,417 Milliarden Einwohner hat, werde im kommenden Jahr laut dem UN-Bericht "World Population Prospects 2022" China (2022: 1,426 Milliarden) überholen. "Das aber kann ebenfalls bereits passiert sein", sagt Lutz, der aktuell auch wissenschaftlicher Leiter des angesehenen Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg ist.

Verlangsamung des Bevölkerungswachstums

Wie aber entwickelt sich die Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten weiter? Der UN-Bericht vom Juli prognostiziert, dass wir im Jahr 2030 8,5 Milliarden sein werden, im Jahr 2050 9,7 Milliarden und Ende des Jahrhunderts 10,4 Milliarden. Das bedeutet, dass sich die "Bevölkerungsexplosion" des 20. Jahrhunderts im Laufe des 21. Jahrhundert deutlich verlangsamen und rund um das Jahr 2100 zum Erliegen kommen wird.

Nicht nur die Uno, auch Wolfgang Lutz und sein Team warten mit neuen demografischen Prognosen auf.
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Lutz und sein Team vom WIC, das mit der Uni Wien, der ÖAW und dem IIASA gleich drei institutionelle Standbeine hat, erregte in den letzten Jahren auch damit internationale Beachtung, dass ihre Prognosen einen weniger starken Anstieg bei der Weltbevölkerung vorsehen als jene der UN-Fachleute. Diesen Unterschieden hat zuletzt auch das "Wall Street Journal" einen großen Artikel gewidmet – dabei allerdings die nicht sehr wahrscheinlichen "Minimalprognosen" von Lutz und Kollegen herangezogen.

Laut diesem Extremszenario, das sich "Rapid Development" nennt und von einem besonders schnellen Erreichen der Nachhaltigkeitsziele ausgeht, könnte die Weltbevölkerung bereits 2055 einen Höhepunkt mit knapp 8,7 Milliarden erreichen, um danach zurückzugehen. Das wahrscheinlichste Modell des WIC hingegen sieht nach der jüngsten Aktualisierung einen Anstieg bis 2070 auf rund 9,8 Milliarden vor, ehe die Zahlen langfristig absinken dürften – im Übrigen das erste Mal seit der Pest im Mittelalter.

Annäherung der neuen Prognosen

Wie Lutz erklärt, haben sich die Prognosen der UN-Fachleute und seine eigenen zuletzt etwas angenähert: "Die Uno hat ihre Zahlen in jüngsten Bericht etwas abgesenkt", was unter anderem mit einer Neueinschätzung der demografischen Entwicklung in China zu tun habe. Die dortige Geburtenrate sei von den Fachleuten für höher erachtet worden, was auch mit den unterschiedlichen Angaben verschiedener chinesischer Stellen zu tun habe. Lutz und sein Team haben ihrerseits die Zahlen in Afrika kürzlich nach oben korrigiert. "Hier hat sich die Kindersterblichkeit dank der Initiativen der Gates-Foundation und anderer Einrichtungen schneller verringert, als wir gedacht haben."

Im Moment arbeitet das Team um Lutz an einer Aktualisierung seiner 2018 erstellten Prognose für das verbleibende 21. Jahrhundert, deren zugrundeliegende Schätzungen auch als öffentlich zugängliche Datenbank abrufbar sind. Aktuell seien freilich einige Unwägbarkeiten dazugekommen. So sei noch nicht absehbar, wie sich die Bevölkerung in Afrika nach den letzten beiden Pandemiejahren entwickeln werde.

Mögliche Folgen der aktuellen Krisen

"In einigen Ländern sind dort die Schulen ein bis zwei Jahre geschlossen worden", sagt Lutz. "Und das könnte ähnliche Auswirkungen haben, wie Einsparungen im Schulbetrieb in den 1980er-Jahren: Als Folge davon kam es in einigen Ländern Afrikas rund um das Jahr 2000 zu einer unerwarteten Pause im Rückgang der Fertilitätsraten", sagt Lutz, der in vielen Studien gezeigt hat, wie stark eine höhere Bildung insbesondere von Frauen sich in einer Verringerung der Kinderzahl niederschlägt.

Ebenfalls unklar seien die demografischen Auswirkungen des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und die befürchteten Nahrungsmittelkrisen. Während Krisen in entwickelten Ländern eher zu einem temporären Rückgang bei den Geburtenraten führen, können Krisen in ärmeren Ländern sogar gegenteilige Effekte haben: "Es könnte etwa auch zu mehr ungewollten Schwangerschaften kommen", sagt Lutz, auch wenn er kaum irgendwo starke Zunahmen erwartet. Zudem erinnert er an ein generelles Problem in Afrika: Obwohl 85 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind, ist Afrika auf Nahrungsmittelimporte angewiesen.

Die Frage der Ernährung

Bleibt die Frage, ob die Erde künftig bis zu zehn Milliarden Menschen nicht nur ernähren kann – im Idealfall auch so, dass die Lebensgrundlage für weitere Generationen nicht nachhaltig beeinträchtigt wird. Das ist auch für Lutz die sehr viel wichtigere Frage als die, ob wir jetzt sieben, acht oder irgendwann bis zu zehn Milliarden sind. Das Problem der Ernährungssituation etwa könne sich mit einer "grünen Revolution" – ähnlich wie zuvor in Asien – in Afrika schnell verbessern, auch wenn man die Auswirkungen von Dünger und Bewässerung auf die Umwelt heute noch besser berücksichtigen sollte.

Ganz grundsätzlich sieht er die große Hoffnung in noch stärkeren globalen Investitionen in Humankapital, die China in den letzten Jahrzehnten zur Weltmacht aufsteigen ließ – und mit der Ein-Kind-Politik Hand in Hand ging. Das würde aber auch bei den Anpassungen an den Klimawandel helfen, die nach allen realistischen Szenarien des IPCC nötig werden.

Prognosen für das Jahr 2200

Lutz denkt dabei aber schon über das 21. Jahrhundert hinaus und stellt auch schon Modellrechnungen für das 22. Jahrhundert an. In den optimistischen Szenarien sehen die ein weltweites Geburtenniveau von 1,5 (also so wie aktuell in Europa) sowie eine weitere Zunahme der Lebenserwartung auf rund 100 Jahre. Da sei es nicht unmöglich, dass die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2200 auf zwei bis vier Milliarden Menschen absinkt. "Und das sind in etwa auch jene Zahlen, die laut Ökologen ideal für den Planeten wären." (Klaus Taschwer, 21.8.2022)