Matthias Karmasin ist Professor an der Universität Klagenfurt und sitzt im ORF-Publikumsrat.

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Der Klagenfurter Universitätsprofessor und ORF-Publikumsrat Matthias Karmasin spricht sich im Gespräch mit dem STANDARD für eine Haushaltsabgabe als neue Finanzierungsform für den ORF aus, allerdings "mit Augenmaß" für einkommensschwächere Haushalte. Die Medienpolitik in Österreich widme sich zu oft nur den Interessen einzelner politischer Akteure und nicht der demokratiepolitischen Aufgabe, die ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk habe.

STANDARD: Was war Ihre erste Reaktion zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, dass Gratis-Streaming der ORF-Kanäle verfassungswidrig ist?

Karmasin: Ehrlich gesagt war ich nicht wahnsinnig überrascht, weil ja viele namhafte Rundfunkrechtler der Meinung waren, dass die Entscheidung absehbar war. Meine erste Reaktion war: Jetzt kommt endlich Bewegung in die Sache.

STANDARD: Wie soll der ORF Ihrer Meinung nach künftig finanziert werden?

Karmasin: Kurze Antwort: über eine Haushaltsabgabe, die mit einem gewissen sozialen Augenmaß stattfindet, sodass auch einkommensschwächere Menschen und Haushalte nicht von der Möglichkeit ausgeschlossen werden, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu konsumieren.

STANDARD: Gebe es für Sie noch andere Möglichkeiten?

Karmasin: Wir wissen, dass in Europa die Möglichkeiten von der Budgetfinanzierung aus dem allgemeinen Budgettopf bis zu Paywall-Angeboten reicht. Es gibt Überlegungen, das auch mit einer direkten Finanzierung zu machen. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass einer der wesentlichen Aspekte des Verfassungsgerichtshofsurteils nicht die Frage des Streamings und der Streaminglücke ist, sondern dass es eine Finanzierungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt. Die Unparteilichkeit und die politische Distanz stehen im Mittelpunkt einer solchen Finanzierung. Dass eine unabhängige Finanzierung des Angebots, so wie es der Verfassungsgerichtshof anführt, mit einer Budgetfinanzierung sichergestellt ist, scheint mir nicht sehr wahrscheinlich. Ich bin kein Verfassungsjurist, aber aus rein ökonomischer Perspektive. Es gibt eine breite Palette von Möglichkeiten, aber unter diesem Aspekt erscheint mir die Budgetfinanzierung nicht gerade als die geeignetste Möglichkeit.

"Ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, dem ich den Zugang zum Publikum verwehre, wird seinen Auftrag nicht erfüllen können."

STANDARD: Braucht es den ORF heute? In welcher Form?

Karmasin: Zwei Antworten. Auch hier ist der Verfassungsgerichtshof sehr eindeutig und sagt klar, dass der ORF ein ganz wesentlicher Bestandteil und ein ganz wesentliches Element des öffentlichen Diskurses ist. Da ist er sehr, sehr klar in seiner Haltung. Dass es ein duales Rundfunksystem braucht, ist ja auch aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive weitgehend unbestritten, und die "Specifica Austriaca" brauche ich jetzt, glaube ich, nicht wiederholen – soll heißen: hohe Medienkonzentration, hohe Boulevardkonzentration, gleichsprachiger hochdifferenzierter Medienmarkt und so weiter und so fort. Wir wissen alle, dass der ORF sehr spezielle wettbewerbliche Bedingungen hat. Zweitens: Wie soll es ihn geben? Natürlich so, dass er sein Publikum auch erreichen kann und er auf die geänderten Nutzungsmodalitäten des Publikums Bezug nimmt. Denn ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, dem ich den Zugang zum Publikum verwehre, wird seinen Auftrag – den jetzt auch der Verfassungsgerichtshof als ganz wesentlichen Auftrag festgestellt hat – nicht erfüllen können. Also lautet die Antwort: Es muss ihn so geben, dass er das Publikum auch auf den verschiedensten Kanälen erreichen kann.

STANDARD: Was würden Sie sich von einem neuen ORF-Gesetz wünschen?

Karmasin: Abgesehen von den Social-Media-Aktivitäten, die erlaubt werden sollten – das ist inzwischen auch Konsens in der Kommunikationswissenschaft –, würde ich gerne als Erstes formuliert wissen: Was ist denn das Ziel der ganzen Operation? Es ist faszinierend in der medienpolitischen Debatte in Österreich, dass man über das ORF-Gesetz und über eine Finanzierung des ORF redet, ohne die Zielsetzungen zu kennen. Es macht einen großen Unterschied im Finanzierungsansatz, ob ich den ORF möglichst unabhängig, möglichst stark und möglichst politikfern organisiere – oder ob ich möchte, dass die jeweils zuständige parlamentarische Mehrheit auch einen Zugriff auf den öffentlich-rechtlichen Sender hat. Da gibt es ja in Europa durchaus Modelle.

"In Österreich bedeutet Medienpolitik, dass der Standort den Standpunkt bestimmt."

Als Medienökonom möchte ich auch noch den Gedanken mitgeben: Der ORF ist nicht der einzige, aber ein wesentlicher Bestandteil der Infrastruktur der Demokratie. Das geht in Richtung eines öffentlichen Gutes, und wie bei anderen Infrastrukturleistungen wird das alleine über marktliche Prozesse nicht abbildbar sein. Das bedeutet notwendigerweise, dass ich andere Ansätze und andere Zugänge wählen muss als bei privaten Gütern oder rein marktlichen Prozessen. Nach dieser langen theoretischen Einleitung nun zum ORF-Gesetz: Man müsste wohl zuerst die Frage stellen: Was ist die Rolle eines starken, eines politisch unabhängigen, eines möglichst pluralistischen – nach innen und außen pluralistischen – Mediensystems in Österreichs? Was ist da die Rolle des Öffentlich-Rechtlichen? Darauf muss das ORF-Gesetz Bezug nehmen. Kleinigkeiten wie die Fristen in der Mediathek, die Social-Media-Aktivitäten, die Archivnutzung und einen Interessenausgleich mit den privaten Playern in dem Bereich werden sicher möglich sein.

Aber ich hoffe doch, dass dieses Verfassungsgerichtshofurteil Anlass ist, um eine Diskussion zu beginnen: Wozu und in welcher Form wollen wir unter den "Specifica Austriaca" den ORF haben? Erst danach stellen wir uns die Frage: Wie finanzieren wir das, und wie bilden wir das rechtlich solide ab? Aber ich habe leider den Eindruck, in Österreich bedeutet Medienpolitik, dass der Standort den Standpunkt bestimmt. Das heißt, die Interessen der jeweiligen Akteure dominieren den jeweiligen politischen Diskurs – und nicht die Frage, wie man die Infrastruktur der Demokratie in Österreich – und das sind alle Medien – möglichst qualitätsvoll, möglichst pluralistisch und möglichst stark organisieren kann. Dazu gehört selbstverständlich auch ein starker, politisch unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk.

STANDARD: Wie kann man die Politik aus dem ORF hinausbringen?

Karmasin: Sagen wir so, die Politik aus dem ORF hinausbringen wird man nicht. Ich hoffe ja, dass der ORF die Politik weiterhin kritisch begleitet und beobachtet, aber in seiner Rolle als vierte Gewalt und in seiner Kontroll- und Kritikfunktion. Wie kann man das machen? Es liegen alle Antworten auf dem Tisch: Es braucht eine Gremienreform, keine Frage. Gegen die Art, wie Publikums- und Stiftungsrat im Moment konstituiert sind, gibt es mehrere Beschwerden, das scheint offensichtlich ein Prozess zu sein, der Optimierungsbedarf hat. Auch die Rolle des Stiftungsrates und die sogenannten Freundeskreise sind Dinge, die in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zwingend dazu führen, dass man die Unabhängigkeit und Politikferne des ORF besonders in den Vordergrund rückt. Eine Finanzierung aus dem Budget würde dazu auch nicht beitragen. Kurze Antwort: Gremienreform und Finanzierung über Haushaltsabgabe.

STANDARD: Nutzen Sie persönlich ORF-Programme?

Karmasin: Ich nutze den ORF auf allen Plattformen und bin einer derjenigen, der die Einschränkungen, dass manche Angebote nur sieben Tage vorrätig sind, als Beeinträchtigung meines subjektiven Nutzungsverhaltens sieht. Ich bin sehr froh, dass in bestimmten pädagogisch wertvollen Bereichen wie Wissenschaft oder Geschichte die ORF-TVthek längere Möglichkeiten beinhaltet. Ich halte das auch für den Einsatz im medienpädagogischen Bereich für wichtig. Das Archiv des ORF ist eines seiner wirklichen Assets. Man könnte darüber nachdenken, diese Archivnutzung, wenn eine Haushaltsabgabe kommt, durchaus ein bisschen breiter einzusetzen. Zum Beispiel für den Einsatz in Schulen, Universitäten oder Volkshochschulen. (Astrid Wenz, 19.8.2022)