Estland macht Ernst. Seit Donnerstag verweigert die baltische Republik Russinnen und Russen mit estnischen Touristenvisa die Einreise, nachdem sie deren Neuausgabe bereits gestoppt hatte. Damit ist es der erste Staat, der eigenmächtig die Forderung nach einem touristischen Visa-Stopp für russische Staatsbürgerinnen durchsetzt, die auf EU-Ebene etwa von Finnland, Lettland und Tschechien unterstützt wird. Am 31. August wird dieser Vorschlag in Prag bei einem EU-Außenministertreffen diskutiert werden. "Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht", meint Estlands Premierministerin Kaja Kallas. Und stimmt damit einen populistischen Gesang an, dessen Zynismus nicht bloß ein leiser Unterton ist.

"Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht", meint Estlands Premierministerin Kaja Kallas.
Foto: EPA/TOMS KALNINS

Denn wer in der Debatte vorgibt, es ginge nur um privilegierte Urlaubsreisende, die in Europa entspannen möchten, der unterschlägt die Tragweite des Stopps. Touristenvisa werden auch von europäisch-russischen Paaren für Treffen genutzt oder bieten liberalen Russen die Möglichkeit, eine Übersiedlung vorzubereiten. Vor allem sind sie aber die schnellste und verlässlichste Möglichkeit für Oppositionelle und politisch Verfolgte, sich außerhalb Russlands in Sicherheit zu bringen.

Für solche Fälle gebe es humanitäre Visa, schreibt Estlands früherer Präsident Toomas Hendrik Ilves auf Twitter. Formal stimmt das. Doch den dafür notwendigen Gefährdungsstatus nachzuweisen ist aufwendig und laut Erfahrungsberichten oft erfolglos. Um die russische Diktatur möglichst schnell hinter sich zu lassen, entscheiden sich etwa Mitarbeiter oppositioneller Medien oder Angehörige der LGBTQ-Community deshalb für ein leichter zugängliches Touristenvisum und beantragen dann vor Ort einen neuen Aufenthaltsstatus. Das ist alles andere als ein Privileg – es ist humanitär notwendig.

Die estnische Regierung lässt übrigens keinen Zweifel daran, dass es ihr keinesfalls nur um das Aussperren russischer Touristen geht. Schon Ende Juli stellte das Land die Vergabe von Visa an russische Studierende ein. Das ist nicht nur humanitär dubios, sondern spielt dem Kreml in die Karten. Nichts fürchtet die russische Regierung mehr als die massenhafte Abwanderung junger, gut ausgebildeter Bürgerinnen und Bürger. Russland setzt auf die Abschottung seiner Bevölkerung von Europa und zeichnet ein Feindbild, um die Leute im Land zu halten. Will man dieser Strategie entgegenwirken, darf man sie nicht kopieren. Man muss die Türen offen halten. (Thomas Fritz Maier, 19.8.2022)