RAF Camora und Bonez MC ließen es wieder krachen. Gerappt wurde allerdings im Schongang mit viel Unterstützung vom Band.

Foto: Keuenhof Rainer, Action press

Es gab eine Zeit, da durften Frequency-Stammgäste wie das Elektropop-Pärchen 2raumwohnung noch vollmundig Loblieder auf die Hitze singen: "36 Grad und es wird noch heißer / mach den Beat nie wieder leiser", hieß es da. "36 Grad, kein Ventilator / das Leben kommt mir gar nicht hart vor." Nun ja, 2raumwohnung werden beim diesjährigen Frequency-Festival nicht singen. Exakt bei jenen 36 Grad aber stand am Donnerstagnachmittag das Thermometer, als das 150.000-Menschen-Event in St. Pölten wegen schwerer Sturm- und Gewitterwarnung unterbrochen werden musste.

Die eintrudelnden Meldungen von katastrophalen Folgen der Wetterkapriolen in ganz Österreich erinnerten einen daran, dass mit den 36 Grad heutzutage nicht mehr ganz so gut Kirschen essen ist. Am Frequency aber ging alles glimpflich vorüber. Die Veranstalter agierten professionell und rasch, evakuierten das gesamte Bühnengelände, sagten mehrere Auftritte ab. Dass es am Vorabend wegen einer überfüllten Halle zu ungewöhnlich heftigen Ausschreitungen gekommen war, mag hingegen von einer gerade recht angesagten Netflix-Doku inspiriert gewesen sein: Woodstock '99 erzählt die Geschichte eines Festivals, das im Desaster endete.

"Green Stage" wird Mondlandschaft

Davon sind wir am Frequency weit entfernt. Man muss aber schon festhalten, dass das Multi-Genre-Festival mit Schlagseite Rap und Elektronik nach zwei Jahren Pandemiepause schon bessere Zeiten gesehen hat: Die zuletzt so fein kuratierte Weekender-Indoorbühne hat mittlerweile Österreichs aufdringlichster Dosenfabrikant übernommen; und den früher so angenehmen, leicht hügeligen Rasen- und Plastikmattenboden auf der "Green Stage" hat man zu einem staubigen Schotterstrand planiert, bei dem man lieber in den Mond- statt in den Badeanzug schlüpfen möchte. Steine sind jedenfalls gut zum Knieaufschlagen, und die Security kann sich beim obligatorischen Durchsuchen auf "Wurfgegenstände" künftig entspannen: wenn nämlich faustgroße Gesteinsbrocken auf dem Gelände herumliegen, relativiert sich das ein wenig.

Auch musikalisch war der erste Tag nicht gerade eine Offenbarung. Fesseln konnte einen zum Beispiel der Rapper Channel Tres, der seinen ungewöhnlichen Stil viel zu früh vor viel zu wenigen Leuten vortragen musste. Der 31-Jährige aus der Hip-Hop-Metropole Compton rappt zu schön pumpender, an den Achtzigerjahren orientierter Housemusik, während vier gleichgewandete Tanzende synchron um ihn herumwirbeln und vom queeren Voguing bis zum Breakdance alles draufhaben.

GODMODE

Die in Wien geborene Sängerin Lisa Pac, die ihr Handwerkszeug zwischenzeitlich in London schärfte, brachte gut produzierte Songs von internationalem Format (Bedroom) mit und wusste die richtigen Fragen zu stellen: "Wer von euch ist verliebt?", "Wer hat heute schon g'schmust?"

Lisa Pac

Eine Antwort auf die viel schwierigere Frage der Festivalkulinarik (wenn die sich einmal nicht zwischen Dosenravioli vom Gaskocher und flüssigen Semmeln abspielen soll) hatte indes ein Stand parat, der mit Vorliebe Tierisches an die vegane Avantgarde ausgibt: Sein Werbespruch "Fuck it, it's cheat day!" könnte gut und gerne Festivalmotto sein. Denn "cheaten", also sich für einen Tag selbst betrügen und über die eigenen moralischen Regeln im Sinne einer Ventilfunktion gönnerhaft hinwegsehen, mag sich auch bei der Leistungsschau mit Schwerpunkt Leistengegend des Wiener Gangsterrappers RAF Camora angeboten haben. So kann es passieren, dass am Ende sogar Fridays-for-Future-Bewegte mit "500 PS" im "Maserati GT S" durch "Gotham City" (Wien-Fünfhaus) düsen.

RAF Camora - Topic

Der RAF und seine gefühlt 25 Kumpani, liebevoll Brüder genannt und standesgemäß in Fußballtrikots mit Ölscheichsponsor auf der Brust gewandet, lieferten jedenfalls eine Viertelstunde lang eine steil gehende Show ab (darunter die leiwande Post-Pandemie-Hymne Endlich Zukunft). Danach aber überbot man sich darin, sich durch groteske Sondereinlagen die eigene Stimmung selbst abzustechen. Gezwungenes Popogewackel vom Lichtturm aus war da noch das Gelindeste.

Es mussten auch von sehr vielen tätowierten Muskelarmen sehr viele Flammenwerfer und Bengalen bedient sowie Platinschallplatten hochgehalten werden. Dinosaurier wurden am Halsband Gassi geführt und ein Krokodil minutenlang auf der Bühne aufgeblasen, um es dann gleich wieder auszulassen und wegzupacken. Vom schlechten Sound muss man eigentlich nicht reden, denn zum großen Teil war Playback Trumpf. Am Ende ergoss sich all das in eine RAF'sche Liebeserklärung an Neunzigerjahre-Eurodance-Sounds, was zugegeben ja nicht die schlechteste Sache ist.

25 Jahre in der Zeit zurückreisen konnte man dann auch noch mit den Hip-Hop- und Marihuanawissenschaftern Cypress Hill, zu denen sich endlich alle 50.000 aus einem modischen Zeitloch herübergebeamten Fischerhüte, Bauchtascherln und Oversize-T-Shirts einfanden, die es schadlos durch die Pandemie geschafft haben. Für ausschließlich alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung. Es war ein "Cheat Day". Schon morgen wird niemand je dabei gewesen sein. (Stefan Weiss, 19.8.2022)