"Wohin hat einen, mich, das Schicksal verschlagen? Wie hat es dem Leben immer neue Wendungen gegeben?": Werner Herzog.

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Vorwort

Ursprünglich sollte mein Film Aguirre, der Zorn Gottes so enden: Das Floß der spanischen Eroberer hat bloß noch Tote an Bord, als es die Mündung des Amazonas erreicht, nur ein sprechender Papagei ist noch am Leben. Als die Flut des Atlantiks das Floß wieder in den gewaltigen Strom zurücktreibt, schreit der Papagei ohne Ende "Eldorado, Eldorado". Erst beim Drehen fand ich eine viel schönere Lösung: Das Floß ist von Hunderten kleiner Affen überrannt, und Aguirre fantasiert ihnen etwas von seinem neuen Weltreich vor.

Jüngst stieß ich auf eine unverbürgte Darstellung vom Ende des historisch verbürgten Aguirre. Von allen verlassen, nachdem er seine eigene Tochter ermordet hat, damit sie seine Schande nicht sehen muss, befiehlt er seinem letzten Getreuen, ihn zu erschießen. Der legt mit seiner Muskete an und schießt Aguirre mitten in die Brust. "Das war nichts", sagt Aguirre. Er befiehlt, noch einmal anzulegen. Der Getreue trifft ihn ins Herz. "Das sollte genügen", sagt Aguirre und stürzt tot um.

Werner Herzog, "Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen". 28,80 Euro / 352 Seiten. Hanser, München 2022 (erscheint am 22. 8.)
Cover: Hanser Verlag

Ich bin mir sicher, dass mit den Affen die schönste aller Alternativen den Film beendet, aber ich frage mich, wie viele Möglichkeiten, wie viele nicht gelebte Alternativen ich selbst ständig hatte, nicht nur bei der Erfindung von Geschichten, sondern im Leben selbst, ohne dass sie Wirklichkeit wurden oder erst viele Jahre später.

Den Titel dieses Buches habe ich schon einmal für meinen Kaspar-Hauser-Film verwendet, aber fast niemand war in der Lage, ihn korrekt wiederzugeben. Ich mache hier einen zweiten Versuch. Möglich, dass er zu sehr nach mir als einem einsamen Einzelkämpfer klingt. Tatsache ist, dass ich fast immer Mitarbeiter um mich hatte, Familie, Frauen. Von ihnen allen, außer ganz wenigen, wird man in diesem Buch nichts erfahren. Sie alle waren ausnahmslos selbstständig, stark, schön und intelligent. Ich wäre nur ein Schatten meiner selbst ohne sie.

Wohin hat einen, mich, das Schicksal verschlagen? Wie hat es dem Leben immer neue Wendungen gegeben? Vieles, sehe ich, ist aber auch konstant – eine Vision, die mich nie verlassen hat, und wie bei einem guten Soldaten auch das Gefühl für Pflicht, Loyalität, Courage. Ich wollte immer Außenposten halten, die von allen anderen schon fluchtartig verlassen worden sind.

Wie viel war vorhersehbar? Von dem japanischen Soldaten Hiroo Onoda, der sich erst neunundzwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ergab, erfuhr ich, dass man bei abendlichem Licht eine Gewehrkugel, gezielt auf einen abgefeuert, wie ein Leuchtspurgeschoss erkennen kann. Man kann dann die Zukunft für einen Moment sehen.

Ich fand mich gerade mitten im Schreiben am Ende dieses Buches. Ich blickte hoch, weil ich vor dem Fenster etwas aufblitzen sah, etwas, was auf mich zuschoss, kupfern und hellgrün glänzend. Es war aber keine verirrte Feindkugel, sondern ein Kolibri.

Ich entschloss mich in diesem Moment, nicht weiterzuschreiben. Der letzte Satz bricht einfach dort ab, wo ich gerade angekommen war. (...)

Unerledigtes

Die Zwischenzone bleibt. Ich habe 1976 einen Film über die Weltmeisterschaft der Viehauktionatoren gedreht, How Much Wood Would a Woodchuck Chuck, er hatte mit meiner Faszination für die letzten Grenzen von Sprache zu tun. Deshalb sind für mich ja Hölderlin und Quirin Kuhlmann, der Barocklyriker, so wichtig, weil sie auf unterschiedliche Weise an die letzte Grenze meiner Sprache, der deutschen, herangekommen sind.

In Stroszek, als Stroszeks Traum von Amerika zerstoben ist, wird sein Wohnwagen versteigert. Der Schauspieler bei dieser Szene war ein Ex-Weltmeister der Viehauktionatoren, den ich in Wyoming aufgespürt und für den Film reaktiviert hatte. Seine Versteigerung, in der sich die Sprache zu einer Kaskade von Raserei, zu einem Singsang verdichtet, der nicht mehr weiter verdichtbar ist, hat niemand vergessen, der den Film gesehen hat.

Ich war immer von dem Verdacht erfüllt, dieses Rasen könne die letzte Poesie sein oder zumindest die letzte Sprache des Kapitalismus. Ich wollte immer Hamlet inszenieren, aber alle Rollen mit Ex-Weltmeistern von Viehauktionen besetzen, ich wollte Hamlet unter eine Aufführungszeit von vierzehn Minuten herunterbringen. Der Text Shakespeares ist ohnedies weitgehend bekannt, und für die Aufführung hätte sich das Publikum lediglich nochmals im Vorfeld mit dem Stück vertraut machen müssen.

Die Oper

Als ich in Wien lebte, trat, ich glaube, es war 1992, die Wiener Staatsoper an mich heran, ob ich Lust hätte, eine Oper in ihrem Haus zu inszenieren. Ich antwortete, eigentlich würde ich viel lieber selbst eine Oper schreiben, den größten Teil der Musik hätte ich schon, und das Libretto würde ich verfassen. Das stieß auf großes Interesse. Ich hatte eine lange Unterredung mit dem Dramaturgen der Staatsoper, ich will ihn getrost hier nur B. nennen.

Meine Idee war, eine Oper über Gesualdo zu schreiben, wobei sein sechstes Buch der Madrigale ein Kernstück der Musik bilden sollte. Carlo Gesualdo (1566–1613) war Fürst von Venosa und konnte als sehr wohlhabender Mann Musik komponieren, ohne von der Kirche oder Gönnern abhängig zu sein. Seine Musik ist weitgehend im Kontext der Musik seiner Zeit, der späten Renaissance, aber in seinem sechsten Buch der Madrigale schrieb er Musik, als seien bei ihm alle Sicherungen durchgebrannt.

Töne wie diese gab es erst wieder vierhundert Jahre später zum ausgehenden 19. Jahrhundert zu hören, und es ist kein Zufall, dass Igor Strawinsky, von ihm stark beeinflusst, zwei Pilgerreisen zum Schloss Gesualdo in der Nähe von Neapel machte. Er komponierte ein Monumentum pro Gesualdo, sein musikalisches Denkmal für ihn, das 1960 uraufgeführt wurde.

Prinz der Finsternis

Gesualdos Leben ist in seiner Theatralik kaum zu überbieten. Er war der Prinz der Finsternis in Quintessenz. Er heiratete die siebzehnjährige Maria d’Avalos, die bereits zweimal verwitwet war. Zeitgenössische Quellen spekulieren, sie habe ihre ersten beiden Männer durch exzessive Beanspruchung im Ehebett zu Tode erschöpft. Maria nahm sich, mit Gesualdo verheiratet, bald einen Liebhaber, Fabrizio Carafa, den Herzog von Andria, einen neapolitanischen Adeligen.

Gesualdo erfuhr von dem Verhältnis, fingierte einen Jagdausflug und überfiel die beiden in flagranti. Dabei wurden die zwei von seinen Gehilfen ermordet, und Gesualdo kehrte ins Schlafgemach zurück, um sicher zu sein, dass beide wirklich tot seien. Dann floh er aus Neapel in sein Schloss und legte eigenhändig, einen Angriff auf sich befürchtend, die gesamten Wälder um den Ort nieder. Bis heute ist die Umgebung seines verwunschen wirkenden Schlosses unbewaldet.

Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er büßend in religiösem Wahn, von jungen Männern umgeben, die ihn nachts mit Ruten zu peitschen hatten. Er starb vermutlich an einer Entzündung, die er sich von den Striemen auf seinen Rücken zugezogen hatte.

Schönheit des Todes

Hier kam aber etwas dazu, was ich, ohne es dem Dramaturgen zu sagen, völlig von mir aus erfunden hatte. In meinem Entwurf tötete Gesualdo seinen zweieinhalbjährigen Sohn, bei dem er sich nicht sicher war, ob er der Vater oder ob das Kind von Marias Liebhaber gezeugt worden sei. Er ließ das Kind auf eine Schaukel setzen und von Dienern schaukeln. Das Kind war begeistert, aber die Diener mussten es immer weiter und weiter schwingen, bis das Kind nach zwei Tagen und zwei Nächten tot war.

Dazu ließ Gesualdo links und rechts Chöre Aufstellung nehmen, die seine Madrigale von der Schönheit des Todes sangen. Ich hatte vor, oben bei der Bühnenrampe eine Schaukel an sehr langen Seilen befestigen zu lassen, damit sie weit über die Köpfe des Publikums hinweg in den Zuschauerraum schwingen konnte.

Ich hörte von der Wiener Staatsoper nichts mehr, aber auf einmal, ein halbes Jahr später, wurde bekanntgegeben, die Staatsoper habe ein neues Stück in Auftrag gegeben, Gesualdo, mit einem Libretto von B. und der Musik von dem deutsch-russischen Komponisten Alfred Schnittke. Die Oper hatte 1995 ihre Weltpremiere. Ich ging nicht hin, aber ich hörte, dass das Publikum von einer Szene am Ende besonders beeindruckt war, wo Gesualdo sein Kind zu Tode schaukeln lässt – bis weit in den Zuschauerraum hinein über die Köpfe des Publikums hinweg. Ich hatte immer das Gefühl, es ist besser, es wird von mir gestohlen, als es wird nicht von mir gestohlen.

Opernhaus der Mafia

Ich hatte auch den Plan, Wagners Götterdämmerung zu inszenieren, aber an einem besonderen Ort, in Sciacca, an der Südküste Siziliens. Niemand kennt diesen Ort, und niemand spricht von ihm. Sciacca war ursprünglich eine karthagische, möglicherweise auch griechische Siedlung, das Städtchen mit vierzigtausend Einwohnern zeichnet sich durch nichts aus. Aber es gibt ein Opernhaus dort.

Ohne dass ich den Beweis dafür hätte, gehe ich davon aus, dass die Errichtung dieses Hauses nichts anderem als dem Zweck der Geldwäsche durch die Mafia diente, weil die Oper nie eröffnet wurde, nie einen Intendanten hatte, keine Verwaltung, keinen Spielplan, keine Mitarbeiter wie Bühnenarbeiter und Elektriker, keinen Chor, kein Orchester, keine Sänger, nichts.

Ich wollte das Opernhaus ein einziges Mal seiner Bestimmung zuführen. Dazu hätte ich Orchester, Chor und Sänger organisiert, Beleuchter, Bühnenbildner, alles Nötige. Vor dem dritten Akt hätte ich das Haus vollständig geräumt und Zuschauer und Musiker in sichere Distanz gebracht, und dann hätte ich das Haus in die Luft gesprengt. Auf den rauchenden Trümmern wäre dann das Stück zu Ende gespielt worden.

Die Stadtverwaltung war meiner Idee nicht abgeneigt, weil das Opernhaus ohnehin eine Art Schandfleck aus Beton war, und ich hatte bereits mit dem besten Abrissteam der USA, das in New Jersey angesiedelt ist, Kontakt aufgenommen.

Wagner inszenieren

Ich kannte nur Bilder des Gebäudes und die Architekturpläne, aber als ich dann in Sciacca vor Ort an die Arbeit gehen wollte, war sofort klar, dass das Projekt undurchführbar war. Der Beton des modernistischen Gebäudes war besonders gehärtet und hätte eine große Menge an Dynamit erfordert, aber in unmittelbarer Nähe der Oper, aus der Gebüsche wuchsen, befindet sich ein großes Krankenhaus, das bei einer Sprengung mit in die Luft geflogen oder zumindest schwer beschädigt worden wäre.

Weil ich in jüngster Zeit manchmal von wahnhaft politisch Überkorrekten angegangen wurde, warum ich überhaupt Wagner inszeniert hätte, habe ich darauf inzwischen eine gestaffelte Antwort.

Cannes 1982: Der am Filmset nicht unbedingt unkomplizierte Klaus Kinski, die italienische Schauspielerin Claudia Cardinale und Werner Herzog posieren im Vorfeld der Filmpräsentation von "Fitzcarraldo".
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Ihr erster Teil ist eine Frage: Warum hat Daniel Barenboim Wagner dirigiert und sogar nach Israel gebracht? Außer Zweifel, Wagner war als private Person ein Stinktier, und noch schwerwiegender, er war Antisemit. Aber er ist nicht für Hitler und den Holocaust verantwortlich zu machen, so wenig, wie man Karl Marx für Stalin verantwortlich machen kann. Die Musik, die Wagner geschrieben hat, ist so groß, dass wir uns ihr nicht entziehen sollten.

Kinski

Ähnliche Fragen nach Schuld und allgemeiner Verurteilung kamen Kinski betreffend auf, nachdem seine Tochter Pola in einem Buch von fortgesetztem Inzest durch ihren Vater berichtet hatte. Pola – wie übrigens eine Reihe von Frauen in jüngster Zeit – suchte bei mir Rat und Beistand, bevor sie ihr Buch publizierte. Ich habe absolut keinen Zweifel an ihrer Darstellung.

Aber sollte ich dem folgend meine ästhetische Position zu Kinski überdenken und die Filme mit ihm aus dem Verkehr ziehen? Meine Antwort darauf sind zwei Fragen, deren Zahl beliebig verlängerbar wäre: Sollen wir die Gemälde Caravaggios aus den Kirchen und Museen entfernen, weil er ein Mörder war? Und: Müssen wir das Alte Testament oder zumindest die Bücher Mose verwerfen, weil Moses als junger Mann einen Totschlag begangen hat? Ich werde meist verwirrt angestarrt, weil alle von der Bibel reden, aber kaum jemand sie gelesen hat. (...)

Meine alte Mutter

Die letzten sechs Jahre ihres Lebens lernte meine Mutter Türkisch, weil sie in München eine Freundin gefunden hatte, die aus dem Osten der Türkei stammte. Meine Mutter besuchte sie dort und war ohne Pauschalreise selbstständig in kleinen klapprigen Bussen in Ostanatolien unterwegs, wo auch lebende Schafe mit zugeladen wurden.

Ihre Gesundheit verschlechterte sich über viele Jahre. Ganz am Ende musste ich in die USA, weil der Produzent Dino De Laurentiis ein großes Filmprojekt mit mir vorhatte. Ich sagte zu meiner Mutter: "Ich bleibe hier. Ich fahre nicht." Aber sie erwiderte: "Du sollst fahren, du musst fahren. Das Leben muss leben." Ich flog nach New York, und direkt nach der Ankunft erfuhr ich, dass sie in derselben Nacht gestorben war.

Ich suchte Zuflucht bei meinem Freund Amos Vogel, der sofort alles für seinen Tag absagte. Er saß den ganzen Tag mit mir, schwieg mit mir und sprach auch einige Gebete. Dieselbe Nacht flog ich wieder zurück. (Werner Herzog, Vorabdruck, ALBUM, 21.8.2022)