Mohsin Hamid beschreibt Merkmale von Rassismus.

Foto: Camera Press / Jillian Edelstein

Mord ist der erste Gedanke, der einem Mann namens Anders kommt, als er sich eines Morgens im Spiegel mit einer veränderten Hautfarbe sieht: Er war am Abend davor als weißer Mann eingeschlafen, nun aber ist er "unleugbar tiefbraun", also in der Logik der geläufigen Wahrnehmung von äußeren Unterschieden ist er schwarz.

Anders verspürt den Wunsch, diesen anderen, der ihm gegenübersteht, umzubringen, aber er begreift natürlich, dass das kein Ausweg ist. Er muss sich diesem überraschenden Umstand irgendwie stellen. Er muss herausfinden, was los ist. Er muss damit zurechtkommen, dass er eine Seite gewechselt hat, die ihm davor nur theoretisch bewusst war.

Variation auf Kafka

Mohsin Hamids Roman Der letzte weiße Mann beginnt mit einer Variation der klassischen Geschichte von Kafka. Jemand wacht eines Morgens auf und findet sich verwandelt. Bei Gregor Samsa ist es ein Insekt, und die ganze Zeit, während man diesen Text liest, versucht man auch, sich konkret vorzustellen, wie dieses Tier aussehen könnte. Bei Hamid ist der Unterschied zwischen vorher und nachher gravierender: Anders hat weiterhin menschliche Gestalt, er fällt nicht auf, aber er wird nicht mehr erkannt. Er sieht sich plötzlich auf eine Unsichtbarkeit verwiesen, die eines der wesentlichen Merkmale von Rassismus ist.

Wobei diese Unsichtbarkeit in beide Richtungen geht: Schwarze Menschen verstecken sich vor dem weißen Blick, der sie ohnehin oft ignoriert. So entsteht eine Spannung, die mit Ressentiments aufgeladen werden kann. Anders macht erste Erfahrungen mit dieser Ambivalenz an der Supermarktkasse. Ist es wirklich Feindseligkeit und Ablehnung, die er hier zu bemerken scheint? Oder ist es nicht vielmehr sein eigenes Nichtverstehen, sein Gespaltensein, das ihn hier als Projektion begleitet?

Nicht die einzige Verwandlung

Der letzte weiße Mann wird vom Verlag als Roman ausgewiesen, de facto handelt es sich wohl um so etwas wie eine Parabel, ein schmales Buch, das eher wenig Ambitionen zeigt, seine Prämisse auf eine soziale Totalität hin auszuloten. Anders bleibt nicht der Einzige, der sich verwandelt, das konnte man angesichts des Titels des Buchs schon gewärtigen. Relevant ist, ob sich alle in die gleiche Richtung verwandeln, also ihren Status als Weiße verlieren. Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn sie irgendwann nicht mehr vorherrschend weiß ist?

Mohsin Hamid kommt aus Pakistan, er lebt in London. Er weiß also aus eigener Erfahrung um diese Dynamiken von einem Zentrum, das sich für selbstverständlich nimmt, und kolonialer Peripherie, der diese Selbstverständlichkeit nicht zuletzt durch Buchmärkte erschwert wird, denen diese Logiken umso stärker eingeschrieben sind. Literarische Welterfolge gibt es nur auf Englisch, das ist quasi die weiße Sprache, zu der alles strebt.

Intimes Porträt

Hamid wurde mit dem Roman The Reluctant Fundamentalist bekannt, der von Mira Nair auch verfilmt wurde, die Geschichte einer "Rückkehr" zum oder Abkehr vom Zentrum, eine Bewegung, die von einer amerikanischen Elite-Uni an eine Uni in Pakistan führt. Hamid versteht es perfekt, die Koordinaten der Zugehörigkeit problematisch werden zu lassen.

Mohsin Hamid, "Der letzte weiße Mann". 22,– Euro / 160 Seiten. Dumont, Köln 2022
Cover: Dumont

Mit Der letzte weiße Mann geht er nun aber in eine andere Richtung. Die Geschichte von Anders und seiner Freundin Oona, die ihm nach seiner Verwandlung erneut näherkommt, bleibt im Wesentlichen ein intimes Porträt eines kleinen Kreises von Menschen. Im Hintergrund deutet Hamid ab und zu latent apokalyptische Vorgänge an, so richtig ernst wird es aber nie, sieht man davon ab, dass jemand dem Mordimpuls, den Anders verspürt hatte, auch tatsächlich nachgibt: "Ein Weißer hatte einen Dunkelhäutigen erschossen, allerdings waren der Dunkelhäutige und der Weiße dieselbe Person."

Hamid spielt hier mit dem zentralen Motiv der Identitätspolitik, indem er in die Identität eine Differenz einführt, die zuerst einmal zum Aus-der-Haut-Fahren ist, mit der man aber auch lernen kann, zurechtzukommen. So findet Anders Gelegenheit, zu seinem schwer kranken Vater zu ziehen, so hält es Oona halbwegs mit ihrer Mutter aus, die sich so lange wie möglich als letzte Bastion der weißen Vorherrschaft zu halten versucht, jedenfalls was ihre Likes auf Instagram betrifft. Irgendwann gehen ihr dann dort aber die Motive aus.

Schritte zur Integration

Hamid versucht an keiner Stelle so etwas wie einen Bilanzbefund: Wie würde eine Gesellschaft aussehen, in der niemand mehr weiß ist? Beinahe könnte man den Eindruck haben, er wollte dieser Aufgabe, die er sich selbst ja doch irgendwie gestellt hat, ausweichen.

Oder aber er lässt die emotionale Intelligenz, die Anders und Oona an den Tag legen, als eine Art Modell erscheinen, an dem man sich nicht nur bei einem großen Sprung von sich selbst weg orientieren könnte, sondern auch bei den kleinen Schritten, die zu einer Integration führen. Am Ende von Der letzte weiße Mann steht dann eben kein letzter weißer Mann, sondern ein neuer Mensch, ein Kind der Liebe. Und Andeutungen einer Gesellschaft ohne Rassismus. (Bert Rebhandl, ALBUM, 20.8.2022)