Österreich sei "wieder einmal in den Mühen der Ebene bei der Flüchtlingsaufnahme angekommen", schreibt Migrationsforscherin Judith Kohlenberger in ihrem Gastkommentar über den Umgang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine.

Fast sechs Monate nach Kriegsausbruch in der Ukraine hat sich eine erste Flüchtlingsmüdigkeit eingeschlichen. Humanitäre Organisationen berichten vom teils dramatischen Rückgang an Spenden, private Quartiergebende sind zunehmend überfordert, weil ihre Schützlinge nun schon ein halbes Jahr von ihnen versorgt werden müssen. Dazu kommen Schwierigkeiten bei der Arbeitsaufnahme wegen fehlender Deutschkenntnisse und Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Perspektivlosigkeit und psychosoziale Belastungen aufseiten der Geflüchteten und der Helfenden. Teuerung und Energiekrise werden wohl noch das ihre dazu beitragen, denn bei wirtschaftlicher Not droht die Ablehnung gegen Fremde zuzunehmen. Die Gefahr, dass die anfängliche Aufregung über ukrainische SUVs in der Wiener Innenstadt nur ein Vorzeichen für die Stimmung im Herbst gewesen sein wird, scheint real.

Wie geht Österreich mit den Ukraine-Flüchtlingen um? Ein Blick in ein Ankunftszentrum in Wien im April.
Foto: Reiner Riedler / www.photography.at

Österreich ist also wieder einmal in den Mühen der Ebene bei der Flüchtlingsaufnahme angekommen, und wiederum zeigt sich: Kulturelle Nähe allein schützt weder vor abflachender Solidarität noch vor offener Ablehnung. Ein Blick in unsere lange Geschichte als Aufnahmeland im Herzen Europas bestätigt das. Als nach dem Volksaufstand in Ungarn im Jahr 1956 hunderttausende Flüchtlinge über die burgenländische Grenze kamen, wurden sie in beispielloser Hilfsbereitschaft von der örtlichen Bevölkerung versorgt und in den umliegenden Gemeinden untergebracht. Österreich positionierte sich als "Tor zum Westen" und setzte sich für die Weiterreise der Flüchtlinge ein.

Unmittelbarer Nachbar

Als diese jedoch nur schleppend voranging und sich die zugesagte internationale Hilfe verzögerte, "kehrte sich die anfänglich antikommunistisch konnotierte ‚Willkommenskultur‘ bereits Ende November 1956 ins Gegenteil", wie die Historiker Maximilian Graf und Sarah Knoll eine der "mythenbeladenen Meistererzählungen" des österreichischen Humanitarismus zusammenfassen. Von "undankbaren" und "parasitären" Flüchtlingen war da bald zu lesen, Hilfe sollten nur "die eigenen Leute" bekommen, die zum Wiederaufbau des Landes beitrugen.

So kulturnah waren dann selbst die Ungarn als unmittelbare Nachbarn nicht, dass ihnen nicht Ablehnung und Abwertung entgegengeschlagen wären. Selbiges scheint auch im Falle der ukrainischen Vertriebenen möglich, ist doch eine Aufnahmebereitschaft, die allein auf der kulturellen Nähe der Ankommenden fußt, eine höchst fragile. Geflüchteten aus Ex-Jugoslawien ist wohl vertraut, wie rasch anfängliche Solidarität in lebenslange Ausgrenzung umschlagen kann. Der Blick in die wechselhafte Geschichte der österreichischen Flüchtlingsaufnahme zeigt: Im Falle des Falles lässt sich immer etwas finden, um die Ankommenden "fremder" zu machen, als sie eigentlich sind.

Auf Dauer ist Solidarität deshalb weniger von Kultur oder Herkunft der Geflüchteten als von den Rahmenbedingungen ihrer Aufnahme abhängig. Das trifft auch auf die Bewältigung der ukrainischen Fluchtbewegung zu. Bürokratische Hürden bei der Erteilung von Sozialleistungen oder Beschäftigungsbewilligungen sind auf lange Sicht genauso wenig hilfreich wie der enge Fokus auf Unterbringung bei privaten Quartiergebern, die wohl nur selten ausgebildete Flüchtlingshelferinnen und -helfer, Traumatherapeuten oder Deutschlehrerinnen und -lehrer sind.

Dafür, dass der politische Stehsatz, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, so oft geschwungen wird wie kaum ein anderer, fühlt man sich mittlerweile doch frappant daran erinnert: Auch damals wurde so manche staatliche Aufgabe an die Zivilgesellschaft ausgelagert, die teils bis heute auf den Kosten sitzen blieb. Auch damals wurden Ressentiments der heimischen Bevölkerung durch föderales Zuständigkeits-Pingpong und lasche Vorausplanung zusätzlich geschürt.

Hehrer Wunsch

Eher behäbig liefen Integrationsmaßnahmen an, auch weil Österreich, spätestens seit den 1960ern ein klassisches Einwanderungsland, erst 2017 ein eigenes Integrationsgesetz erhielt, das Rechte und Pflichten der Ankommenden festhält. Und der Vergleich drängt sich nicht zuletzt deshalb auf, weil sich die Größenordnungen gleichen: Wurden bis Ende des Jahres 2015 88.000 Asylanträge in Österreich gestellt, sind nun bereits 80.000 Ukrainer hierzulande registriert. Dass die "alle wieder zurückgehen werden", ist ein hehrer Wunsch, der sich wohl nicht immer erfüllen wird, ähnlich wie anno dazumal zahlreiche ungarische Flüchtlinge in Österreich eine neue Heimat fanden.

Solidarität hat dann gute Chancen langfristig zu bestehen, wenn sich die Zivilgesellschaft begleitet, unterstützt und auf Augenhöhe eingebunden fühlt. Wenn sie eben nicht ein Eindruck erhält, mit den Herausforderungen alleingelassen zu werden. Der direkte Kontakt mit Neuankommenden ist dabei zentral: In Form der 36-jährigen Taisiia oder des elfjährigen Ihor bekommt die Fluchtbewegung aus der Ukraine ein menschliches Gesicht, ein Schicksal und eine Geschichte. Einheimische in die Versorgung mit einzubeziehen darf aber nicht heißen, sie die Situation allein schultern zu lassen. Der Staat ist gefordert, jene Rahmenbedingungen zu schaffen, die einen dauerhaften Aufenthalt für beide Seiten, Geflüchtete und Aufnahmebevölkerung, angemessen gestalten. (Judith Kohlenberger, 21.8.2022)