Adel-Naim Reyhani, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-Institut für Grund- und Menschenrechte, schreibt in seinem Gastkommentar über problematische Rückschritte in der Asylpolitik.

Die schleichende Normalisierung von Pushbacks – wenn Asylsuchende an den Grenzen ohne Prüfung ihres Schutzbedarfs zurückgedrängt werden – ist in Europa in den letzten Jahren rasch vorangeschritten. Dadurch werden zwei wesentliche Einsichten infrage gestellt, die die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs hervorbrachte.

Warten hinter Stacheldraht: die Situation an der griechisch-türkischen Grenze im März dieses Jahres.
Foto: AFP / Sakis Mitrolidis

Das absolute Verbot, Menschen zu foltern oder unmenschlich oder erniedrigend zu behandeln, ist spätestens seit 1950 zentraler Bestandteil der europäischen Grundrechtsordnung. "Daher bitte ich diese Versammlung", formulierte der englische Vertreter im Zuge der Ausarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im September 1949, "der ganzen Welt zu verkünden, dass Folter etwas gänzlich Böses ist […] und dass kein Grund ihre Anwendung oder Existenz rechtfertigen kann […]." Und weiter: "Ich sage, wenn ein Staat, um zu überleben, auf einer Folterkammer aufgebaut werden muss, dann sollte dieser Staat untergehen […], so wie Nazi-Deutschland untergegangen ist."

In diesem Sinne wurde das Folterverbot schließlich auch als zentrale Bestimmung in der EMRK etabliert – als ein Verbot, das keine Ausnahmen kennt und von dem selbst in Kriegszeiten oder bei sonstigem nationalem Notstand nicht abgegangen werden darf.

Rolle des Folterverbots

Die Rolle des Folterverbots für das Flüchtlingsrecht wurde erst später deutlich, als 1989 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu einer wegweisenden Interpretation kam. In der Rechtssache Soering gegen das Vereinigte Königreich entschied er, dass europäischen Staaten nicht nur selbst die Ausübung Folter untersagt ist, sondern dass es auch durch eine Auslieferung in ein anderes Land verletzt werden könne. Damit wurde der Weg geebnet, dass das Folterverbot heute als wesentlicher Maßstab für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Migrationskontrolle zur Anwendung kommt.

Die Krux liegt nun darin: Wenn gar nicht erst geprüft wird, in welche Lage Betroffene im Falle der Zurückweisung oder Abschiebung versetzt werden, kann auch eine Verletzung des Folterverbots nicht ausgeschlossen werden. Bei Pushbacks passiert in der Regel jedoch genau das.

Eine nicht minder bedeutsame Auswirkung von Pushbacks ist jener rechtliche Ausschluss von Flüchtlingen, der nach dem Zweiten Weltkrieg so deutlich hervortrat. Die damalige Massenvertreibung von Menschen über nationale Grenzen hinweg bewegte die internationale Gemeinschaft zur Etablierung der Flüchtlingskonvention von 1951 – bis heute Kernstück des Flüchtlingsrechts. Den Verfassern der Konvention war bewusst, dass das Problem nicht nur humanitärer Natur war. Flüchtlinge waren aufgrund der Beschaffenheit der internationalen Ordnung auch "rechtelos" geworden. Sie waren, wie der Völkerrechtler Robert Yewdall Jennings es bereits 1939 ausdrückte, "eine Anomalie, für die es keine angemessene Nische im Rahmen des allgemeinen Rechts gibt".

Frage der Rechte

Tatsächlich steht die Figur des modernen Flüchtenden in enger Verbindung mit der noch auf den Westfälischen Frieden zurückgehenden Regel, dass jeder Mensch zur politischen und rechtlichen Gemeinschaft eines Staates gehört. Die Hugenotten, die im Zuge des französischen Staatsbildungsprozesses wenige Jahrzehnte nach Unterzeichnen der Friedensverträge aus dem Land vertrieben wurden, stellten das wohl erste moderne Beispiel von Flüchtlingen dar – von Personen, auf die diese Regel nicht mehr zutraf, da sie den Schutz ihres Herkunftsstaates verloren hatten.

Es ist bis heute die Absicht der Flüchtlingskonvention, auf dieses Phänomen der Rechtelosigkeit zu antworten. Sie soll Flüchtlingen durch die Gewährung eines sicheren Rechtsstatus in einem anderen Land wieder den Schutz des internationalen Rechts zukommen lassen. Durch Pushbacks wird jedoch ebendiese Funktion des Flüchtlingsrechts unterminiert. Durch sie verhindern Staaten, dass jene, die ihren rechtmäßigen "Platz auf der Welt" verloren haben, diesen wiedererlangen können.

Die Tatsache, dass Pushbacks in immer mehr Staaten zur üblichen Antwort auf Fluchtbewegungen geworden sind, stellt also nicht nur das Folterverbot infrage, sondern verhindert, dass Menschen überhaupt wieder Rechte haben können.

Die schleichende Normalisierung dieser Praxis geht so mit einer Abkehr von Einsichten einher, die Europa durch die Abgründe des Zweiten Weltkriegs bereits gelernt hatte. (Adel-Naim Reyhani, 20.8.2022)