Ein in die Vereinsfahne gewickelter Trommler, der mit offenem Mund auf sein Instrument eindrischt. Eine singende junge Frau in Schal und Matrosenoutfit, umrahmt von drei in Trikot und Mütze gehüllten Männern im besten Alter, die sich die Seele aus dem Leib schreien. Zwischen ihnen ein leerer Sitzplatz, der zum Kommen einlädt: Schwarzblau bittet zum Tanz. An der Kreuzung der Polska und der Bunina Street im Zentrum von Odessa hängt ein Plakat, das all das zeigt und eine Ahnung vom Leben vor der Katastrophe gibt. Es abzunehmen hat sich bis heute keiner die Mühe gemacht. Obwohl die darauf beworbene Veranstaltung bereits vor mehr als einem halben Jahr abgesagt wurde.

Die Farben von Tschornomorez sind in Odessa allgegenwärtig.
Foto: Klaus Stimeder

Am 27. Februar hätte der FC Tschornomorez Odessa im Rahmen des Auftakts zur Rückrunde der Ukrainian Premier League (UPL), der höchsten Spielklasse des Landes, den FC Mariupol empfangen sollen. "Die Euphorie war groß", sagt Anatolij Chalabuda. "Wir hatten bereits über 20.000 Karten für die Partie verkauft. Das erste Mal seit langem. Im Herbst lag der Zuschauerschnitt noch unter 6000. Es wäre das erste Spiel nach der Rückkehr von Roman Hryhorchuk gewesen, mit dem wir uns im vorigen Jahrzehnt für die Europa League qualifiziert haben."

Immer weiter

Auch wenn sich Chalabuda Mühe gibt: Wenn der gebürtige Odessiter über das ausgefallene Spiel und das Hier und Jetzt spricht, steht ihm die Wehmut ins Gesicht geschrieben. "Es hilft nichts. Es muss trotz allem weitergehen." Der Mittdreißiger, der seinem Lieblingsklub seit einem Jahrzehnt dient und als Assistent der Stadion-Geschäftsführung neben dem Tschornomorez-Museum auch den Fanshop und die Nachwuchsakademie betreut, lässt seinen Blick über die Wand des Museums schweifen.

Der großzügig angelegte Austellungsraum im Bauch des 34.000 Menschen fassenden Tschornomorez-Stadions wurde zeitgleich mit dessen Einweihung vor elf Jahren eröffnet. Riechen tut er immer noch wie neu. Vor sechs Monaten führte Chalabuda hier noch lokale Schulklassen und Touristen und Groundhopper aus der ganzen Welt durch. Seit Kriegsausbruch ist das Museum wie das Stadion für die Öffentlichkeit geschlossen. Der Freude, die Chalabuda daran hat, einem die bewegte Geschichte seines Vereins näherzubringen, tut das keinen Abbruch. Er deutet auf den Schaukasten, in dem die Erfolge der sechziger Jahre verewigt sind. "Schau! Erkennst du den?"

Anatolij Chalabuda, Mädchen für alles bei Tschornomorez, kann nur hoffen.
Foto: Klaus Stimeder

Stars, Stars, Stars

Man muss zweimal hinschauen, aber kein Zweifel, es ist Walerij Lobanowskyi – Trainerlegende der UdSSR und der unabhängigen Ukraine, Träger des "Fifa Order of Merit", der höchsten Auszeichnung, die der Weltverband zu vergeben hat. Der 2002 verstorbene Großmeister des Rasenschachs spielte als junger Mann nur eine Saison für Tschornomorez (1965/66). Mit 15 Toren und als effektiver Vorbereiter hinterließ er in Odessa trotzdem einen nachhaltigen Eindruck. Was der einstige Mentor von Superstars wie Oleg Blochin, Ihor Bjelanow und Andrij Schewtschenko über die heutige Situation denken würde, mag man sich kaum vorstellen.

Am Dienstag beginnt im ukrainischen Fußball eine neue Zeitrechnung. An diesem Tag starten die 16 Teams der Ukrainian Premier League in ihre neue Saison. Das erste Spiel wird um 13 Uhr Ortzeit (12 Uhr mittags MESZ) im Olympiastadion von Kiew mit der Partie Schachtar Donezk gegen Metalist 1925 Charkiw angepfiffen. Zwei Stunden später treffen sich Tschornomorez Odessa und Veres Rivne im Duell der Aufsteiger. Der irische Pay-TV-Konzern Setanta Sports, der die Übertragungsrechte der Liga hält, überträgt die Spiele live. Das alles, obwohl die Ukraine seit Ende Februar einen Abwehrkampf gegen die Truppen Russlands führt. Im ganzen Land gibt es seitdem praktisch keinen Ort mehr, der von Moskaus Bomben, Granaten, Kugeln und Raketen verschont bleibt.

Tag der Unabhängigkeit

Der Termin des Saisonauftakts ist kaum zufällig gewählt. Am 24. August begeht die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag. 31 Jahre wird es dann her sein, dass sich ihre Bürgerinnen und Bürger mit überwältigender Mehrheit für die Loslösung aus dem Bund der Sowjetrepubliken entschieden.

Das schmucke Stadion von Tschornomorez liegt unweit des Hafens und damit in einer Gefahrenzone.
Foto: Klaus Stimeder

Stadien, in denen noch vor zehn Jahren im Rahmen der gemeinsam von der Ukraine und Polen ausgerichteten EM Fußballfeste gefeiert wurden, liegen unter Beschuss oder schon in Schutt und Asche – wie das Stadion des FC Mariupol in der im Mai von den Russen eingenommen Stadt. Zum Treffen mit Tschornomorez Odessa wird es wahrscheinlich nie mehr kommen. Der FC Mariupol existiert nicht mehr.

Übrig geblieben sind jene Mannschaften, deren Infrastruktur bisher weitgehend verschont blieb. Auf die Rückkehr in ihre Heimstadien werden fast alle von ihnen trotzdem noch lange warten müssen. Damit ein relativ sicherer Spielbetrieb gewährleistet werden kann, ordnete die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj an, dass die UPL-Matches der Saison 2022/23 nur in der Hauptstadt und im äußersten Westen des Landes ausgetragen werden dürfen. Zuschauer sind ausgeschlossen.

Einlass soll vorläufig nur der engste Kreis an Betreuern und Vereinsfunktionären finden. Um die Sicherheit der Spieler zu gewährleisten, wird zudem nur an Orten gespielt, die mit einem bombensicheren Bunker ausgestattet sind. Bei Luftalarm muss der Schiedsrichter abpfeifen und die Mannschaften so schnell wie möglich in den Untergrund geleiten. Das Maximum an Zeit, das sie im Bunker verbringen dürfen, beträgt eine Stunde. Sollte der Alarm dann noch aufrecht sein, wird das Spiel abgebrochen und nicht gewertet.

Ein Blick in den Schaukasten zeugt von Europacuppartien.
Foto: Klaus Stimeder

Fatale Hafennähe

"Klar, es wird schwierig. Aber Schwierigkeiten sind wir mittlerweile mehr als gewohnt", sagt Anatolij Chalabuda. "Wir können nur hoffen, dass es ruhig bleibt, damit wir so bald wie möglich wieder zu Hause spielen können. Aber unser Stadion steht nun einmal nah am Hafen. Und den haben die Russen sogar noch beschossen, als das Abkommen über die Getreideexporte schon unterschrieben war."

Entsprechend wird Tschornomorez Odessa sein erstes Spiel, das Aufsteigerduell mit Zweitligameister Veres Rivne, im Bannikov-Stadion in Kiew austragen. Die ungewohnte Spielstätte und die fehlende Unterstützung von den Rängen stellt für den Traditionsklub, der sich in den achtziger Jahren Europacupschlachten mit Werder Bremen und Real Madrid lieferte und in der Saison 2013/14 unter dem damaligen wie heutigen Trainer Roman Hryhorchuk ins Achtelfinale der Europa League vorstieß, aber bei weitem nicht das einzige Problem dar. Das Dilemma, das Tschornomorez mit seinen Konkurrenten teilt, geht teils auf die unglückliche Weise zurück, mit der die Fifa auf den russischen Überfall der Ukraine reagierte.

Per Weisung hatte der Weltverband kurz nach Kriegsbeginn allen ausländischen Spielern, die bei ukrainischen Profiklubs unter Vertrag standen, das Recht eingeräumt, ablösefrei zu gehen. Für die Vereine – die nachgewiesenermaßen alles in Bewegung setzten, um ihre Spieler nach Beginn der Kampfhandlungen umgehend außer Landes zu bringen – brachte das einen Verlust, der nach Schätzungen von Serhij Palkin, dem CEO des amtierenden Meisters Schachtar Donezk, von bis zu 60 Millionen Dollar.

Oktober 1985: Werder Bremen gegen Schwarzmeer Odessa.
Алексей Смолин

"Uns wurden von heute auf morgen manche unserer besten Spieler gestohlen. Ohne mit uns zu sprechen und ohne Kompensation." Die Fifa hat alles zerstört. "Während unsere Klubs Millionen verlieren, verdienen sich die Spielervermittler dumm und dämlich." Palkin hat den Weltverband deshalb geklagt. Mittlerweile liegt der Fall beim Internationalen Sportgerichtshof CAS.

Auch bei Tschornomorez, das anders als Teams wie der Champions-League-Teilnehmer Schachtar und Europa-League-Fixstarter Dynamo Kiew vom internationalen Geschäft derzeit nur träumen kann, spürt man die Folgen der Fifa-Entscheidung. Davon abgesehen, dass der Klub fast die Hälfte seiner Mitarbeiter verloren hat, haben von den zehn Legionären, die vor der Invasion unter Vertrag standen, neun den Klub verlassen.

Ein Problem weniger

Immerhin, ein Problem, mit dem manche ukrainische Klubs seit jeher zu kämpfen haben, wird es in der Saison 2022/23 nicht mehr geben. Zumindest nicht offensichtlich. Rassistische und antisemitische Ultragruppen, wie sie vor allem bei Erstligist Karpaty Lwiw auftraten, haben keine Plattform mehr. Zumindest in Odessa kennt man solche Probleme laut Pressesprecher Igor Oks ohnehin nicht: "Wer die Geschichte unserer Stadt kennt, weiß, dass Odessa und Antisemitismus inkompatibel sind." (Klaus Stimeder aus Odessa, 22.8.2022)