Alexej Nawalny im Mai 2022 bei einem seiner Versuche, gegen die Dauer oder die Bedingungen seiner Lagerhaft Beschwerde einzulegen.

Foto: Russian Federal Penitentiary Service via AP)

Immer wieder meldet er sich zu Wort – sogar aus dem Straflager: Alexej Nawalny, einst der schärfste Widersacher von Russlands Präsident Wladimir Putin. Mal sind es originelle Einfälle wie die Gründung einer Ein-Mann-Gewerkschaft für Beschäftigte im Straflager (gemeint ist er selbst, vertreten will er aber auch seine Wärter, die ja auch im Straflager arbeiten); mal sind es politische Forderungen, wie etwa jüngst die Verschärfung der EU-Sanktionen gegen russische Oligarchen – eine Forderung, die eine Sprecherin der EU-Kommission postwendend zurückwies: Schließlich stünden bereits mehr als 1.200 Personen auf der EU-Sanktionsliste.

Und auch auf Telegram herrscht reger Betrieb. Nawalny geht es um aktuelle Themen wie zum Beispiel mögliche EU-Einreiseverbote für russische Staatsbürger. In einem Video warnt der Nawalny-Vertraute Wladimir Milow den Westen vor einem "Visa-Krieg gegen Russen". Das schade den im Westen gepredigten demokratischen Werten und spiele Kreml-Chef Wladimir Putin in die Hände, sagt Milow.

Immer neue Klagen

Insgesamt aber ist es still geworden um den Kreml-Kritiker. Neun Jahre muss er im Straflager bleiben, verurteilt wegen angeblichen Betrugs. Immer neue Anklagen und Strafverfahren drohen, seine Bewegung ist zerschlagen, ins Ausland vertrieben.

Vor genau zwei Jahren war es noch anders. Die Schlagzeile ging um die Welt: "Alexej Nawalny vergiftet!" Nawalny flog in einer Linienmaschine von Tomsk im Westen Sibiriens in Richtung Moskau. Plötzlich wurde ihm unwohl, er verlor das Bewusstsein.

Sein Leben verdankt er wohl einem beherzten Piloten, der zur Notlandung in Omsk ansetzte. Zwei Tage wurde Nawalny dort behandelt, bevor er auf Druck seiner Familie nach Deutschland, in die Berliner Charité, verlegt wurde. Dort kämpften die Ärzte tagelang um sein Leben; nach 32 Tagen konnte Nawalny das Krankenhaus verlassen.

Anschlag mit Nowitschok

Untersuchungen in einigen Ländern ergaben: Nawalny war mit Nowitschok vergiftet worden, einem der stärksten Giftkampfstoffe, die es gibt. Bei Hautkontakt wirkt bereits ein Milligramm tödlich.

Die Vergiftung Nawalnys hat eine Parallele: Im März 2018 wurden in Großbritannien Sergej Skripal, ein ehemaliger Geheimagent, und seine Tochter ebenfalls mit Nowitschok vergiftet. Beide überlebten den Giftanschlag. Restlos aufgeklärt wurde er aber nie. Die damalige britische Premierministerin Theresa May hielt eine Beteilung Russlands für "sehr wahrscheinlich". Die britische Justiz erhob Anklage gegen zwei russische Staatsbürger wegen Verschwörung zum Mord. Die beiden waren mit echten russischen Pässen, aber unter falschen Namen ein- und wieder ausgereist. Russland dementierte jede Beteilung.

Wie Sergej Skripal macht auch Alexej Nawalny den russischen Geheimdienst für seine Vergiftung verantwortlich – und auch das weist der Kreml zurück. Tatsache ist: Nowitschok ist kein Allerweltsgift, nur ein ausgewählter Kreis von Menschen aus Militär und Geheimdienst hat Zugang. Doch wer nun wirklich den Kreml-Kritiker ermorden wollte, bleibt im Dunkeln.

Genauso unklar ist das Warum. Nawalnys großes Thema ist die Korruption im Land. Er legte sich mit Oligarchen an, den Mächtigen aus Politik und Wirtschaft. Politisch ist seine Karriere wechselhaft. Nawalny hat einen Studienabschluss in Jus, studierte Finanzwirtschaft, war Unternehmer. Einige Jahre lang arbeitete er in der Oppositionspartei Jabloko, wegen nationalistischer Äußerungen musste er die Partei verlassen.

Umstrittenes Video

Berühmt wurde ein Video, von dem er sich heute distanziert: Er setzte kaukasische Terroristen mit "Kakerlaken" gleich. 2011 gründete er den FBK, seinen Fonds zur Korruptionsbekämpfung. 2013 kam er bei der Moskauer Bürgermeisterwahl auf respektable 27 Prozent.

Nawalny sei seinem großen Feindbild Wladimir Putin gar nicht so unähnlich, schreibt der Bremer Politologe Jan Matti Dollbaum. "Nawalny setzt dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, arbeitet die Staatsmacht ehrlich, transparent und effizient."

Alexej Nawalny ist ein Charismatiker, einer, der Menschen begeistern kann. Er und sein Team arbeiten perfekt im Netz, können Menschen mobilisieren. Und genau darauf setzte Nawalny, als er im Jänner 2021 nach Russland zurückkehrte – wohlwissend, dass seine Festnahme wegen Bewährungsverstoßes aus einem früheren Strafverfahren wegen Betrugs droht.

Wenige Tage nach der Festnahme veröffentlichte Nawalnys Team im Internet den Film Ein Palast für Putin, der über 100 Millionen Mal angeklickt wird. 112 Minuten, von Nawalny glänzend moderiert, eine akribische Recherche, gespickt mit Fakten. Doch dass das Märchenschloss am Schwarzen Meer wirklich "Putins Palast" ist, das kann der Film nicht beweisen.

Verkalkuliert

Tausende demonstrierten landesweit für Nawalnys Freilassung, die Polizei ging hart gegen seine Unterstützer vor.

Doch das Kalkül ging nicht auf. Das Interesse ebbte schnell ab, wohl auch aufgrund der Polizeigewalt. Nawalny wurde mit immer neuen Strafverfahren überzogen. Zuletzt wurde er in die "Liste der Terroristen und Extremisten" aufgenommen. Die Klage dagegen verlor Nawalny: Er kam in ein Straflager mit "strengem Regime". Das bedeutet Verschärfung der Haftbedingungen, weniger Besuche, weniger Briefe und Pakete, Verkürzung der täglichen Spaziergänge im Freien. (Jo Angerer aus Moskau, 20.8.2022)