Gaben sich bereitwillig dem Rausch des Protestes hin: die Punk-Aktivistinnen von Pussy Riot.

Foto: Jazzfestival Saalfelden

Es sind ungewöhnliche Bilder und Wortsalven für ein Jazzfestival: Am Samstag gegen Mitternacht sieht man Videos von liegenden Demonstranten, auf die unentwegt russische Polizeiknüppel herabsausen, während auf der Bühne des Saalfeldner Nexus im wütenden Brüllton "Putin wird dich lehren, das Vaterland zu lieben!!" skandiert wird. Die vier Frauen der Protestcombo Pussy Riot wissen, wovon sie rappen. Ein Mitglied der Band trägt – in Form einer Fußfessel – immer noch "Erinnerungen" an die Heimat, die es letztlich doch verlassen konnte.

Maria Aljochinas Flucht war übrigens eine Demütigung für die repressiven Behörden. Ihr gelang der "Abschied" aus dem russischen Hausarrest just in Verkleidung einer Pizzalieferantin, die nach abenteuerlicher Osteuropareise schließlich im Westen ankam. Man erinnert sich: Aljochina war jene Aktivistin, die 2012 mit zwei Kolleginnen zu 24 Monaten Straflager verdonnert wurde. Sie hatte in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale mit einem "Punk-Gebet" und Tanzfußtritten gegen Putin protestiert und Gott und Maria angefleht, den Autokraten abzusetzen.

Aljochinas Buch Riot Days – über die Erfahrungen mit Haft und Diktatur – ist auch die Basis der aktuellen Performance, mit der man überdies im Wiener Porgy & Bess (6.9.) zu erleben sein wird. Befeuert von deftig-monochronen Elektrobeats und eindringlichen Videodokumenten zu Russlands Repressionsalltag geben sich die Vier gleichsam einer Verausgabungserzählung hin. Sie beten, tanzen, sprühen Wasser ins Publikum und zerzausen die Bühnenutensilien, während sich ihr Dauermonolog zu einer Art Punk-Exorzismus steigert.

Wunsch nach Austreibung

Er ist vom Wunsch nach einer politischen Teufelsaustreibung durchdrungen und mündet am Ende in eine Sympathieerklärung an die Ukraine, die mit Bildern von Leichensäcken und zerstörten Gebäuden dramatisiert wird.

Auf der Hauptbühne – ein paar Schritte entfernt vom Nexus, im Congress – klang der Salzburger Saxofonist Fabian Rucker zuvor so, als hätte er auf diese ukrainischen Tragödienbilder musikalisch reagiert. Es ist ein schmerzaufgeladener expressiver Monolog der freejazzigen Art, mit dem Rucker sein Projekt schnell emotional verdichtet. Das von ihm komponierte Programm Observer, in dem auch Keyboarder Philipp Nykrin für raffinierte Momente sorgt, changiert in weiterer Folge zwischen exzentrischer und improvisatorisch aufgeladener Songatmosphäre und hymnischen Reminiszenzen an die spirituellen Landschaften eines John Coltrane.

Rucker ist dabei nie in der Nähe einer aufgesetzt wirkenden Simulation historischer Ekstatik. Er ist der Virtuose im hochproduktiven Stress, der später auch die sanfte Sphäre mit melodischer Raffinesse erfüllt. Ein Großmeister in dieser Disziplin "melodiöser Logik" auf der Schnellstraße des Postbop ist auch der französische Sopransaxofonist Emile Parisien. Mit seiner Formation Louise zelebriert er raffiniert dahinschleichende Balladenmelancholie.

Ob er nun markante kurze Phrasen ersinnt oder die Schönheit in der Geschwindigkeit findet: Parisien scheint die Utopie des Improvisierens als eine Art Komponierkunst in Echtzeit Bühnenrealität werden zu lassen. Ist ein solcher ausgiebiger Monolog der Reiz kleinerer Besetzungen, legitimiert sich eine Großcombo mehr durch die Bündelung der Einzelkräfte zur Ganzheit. Auch dazu gab es in Saalfelden reichlich – etwa durch das Trondheim Jazzorchestra und Jason Moran. Der US-Pianist, einer der wesentlichen Vertreter der zeitgemäß verarbeiteten Tradition, schafft es in episodenhaften Stücken, die Einzelkräfte in den Dienst kollektiver Komplexität einzubinden.

Spiel mit Atmosphären

Man kann in Großbesetzungen auch mit historischen Versatzstücken noch eindeutiger spielen als Moran und dennoch originell rüberkommen: Christoph Cechs Jazz Orchestra Projekt etwa beginnt, als wäre es eine Hommage an Isaac Hayes Soundtrack-Hit Shaft. Als virtuoser Komponist benutzt Cech jedoch Bekanntes, um es der individuellen Verarbeitung zu unterziehen. Es ergab eine packende Stunde der rhythmisch-melodischen Schichtungen, bebopig rasender Pointen, die Substanz und Kurzweil einten. Noch was: Pussy Riot hätte man ruhig auf die große Bühne laden können. Das Statement wäre noch stärker ausgefallen. Besondere Zeiten erlauben besondere Programmausnahmen. (Ljubisa Tošic, 21.8.2022)