Shakespeares "Sommernachtstraum" wird vorgeworfenm, dass er "klassistisch" sei. Strindbergs "Fräulein Julie" wurde indes von Leselisten gestrichen, weil es von Selbstmord handelt.

Illustration: Eva Schuster

Im Juni ließ die Autorin Margaret Atwood eine feuerfeste Version ihres Bestsellers "Der Report der Magd" (1985) versteigern, um auf die grassierende "Zensur" literarischer Werke in den USA aufmerksam zu machen. Nachrichten zu von Boykott bedrohten Büchern reißen in der Tat nicht ab. Aus immer mehr Bibliotheken verschwinden immer mehr Titel. Anfang 2022 votierte eine Schulbehörde im Bundesstaat Tennessee dafür, Art Spiegelmans "Maus" wegen "anstößiger Sprache" aus den Klassen zu verbannen. Der Comic handelt von der Nazizeit und ihren Opfern: Spiegelman ist Nachfahr von Holocaustüberlebenden, "Maus" wurde 1992 mit dem Pulitzer-Preis geehrt. Man hat fast aufgehört, sich zu wundern, und nimmt Verbote gelobter Bücher zur Kenntnis.

Aus Europa vernahm man solches bisher nicht. Verlage sprechen zwar nicht gerne über "woke" Forderungen, die zunehmend an sie gerichtet werden, wenn es um Triggerwarnungen auf Büchern und um das Vermeiden von politisch inkorrekten, historisch aber akkuraten Wörtern in ihnen geht. Fragen danach, wer wen übersetzen darf, gehören auch hierzulande inzwischen zum neuen Problemfeld. Gecancelt wurde aber noch kein Titel.

In Europa trafen Proteste bisher "nur" Vorträge. 2019 etwa wehrte sich die heimische ÖH gegen einen Auftritt der Feministin Alice Schwarzer an der Angewandten und schrieb ihr "antimuslimischen Rassismus" zu.

Sklaverei und Suizid problematisch

Nun ist es auch in good old Europe so weit. Die britische Zeitung "The Times" hat von 140 Universitäten auf der Insel Auskünfte zum Umgang mit Texten angefordert. Nicht alle Unis haben die gewünschte Auskunft erteilt. Es zeigte sich aber: Zehn Institutionen gaben an, bereits Bücher zu den Themen Sklaverei oder Suizid aus ihren Leselisten gestrichen zu haben. In vielen Studiengängen seien, berichtet die "Times", zudem 1.081 Texte mit Triggerwarnungen versehen oder von Pflicht- zu optionaler Lektüre herabgesetzt worden. "Herausfordernde" Inhalte würden vermieden, um Studierende zu schützen, bekennen Unis.

Dazu zählt etwa Colson Whiteheads Roman "Underground Railroad" (2016) über ein fantastisches System von unterirdischen Bahnverbindungen in den USA zu Zeiten der Sklaverei, über das Schwarze aus den Südstaaten in den Norden flüchten. Die Universität Essex hat das Werk wegen drastischer Darstellungen von Sklaverei "dauerhaft" von Leselisten entfernt. Pulitzerpreis hin oder her. August Strindbergs Stück "Fräulein Julie" hingegen findet sich nicht mehr in Kursen der Uni Sussex (sie gehört wie Essex zur Russell Group, die 23 Unis betreibt), weil darin über Suizid gesprochen wird. Studierende sollen sich über emotionale Belastung beschwert haben.

Charles Dickens und William Shakespeare sind ebenso von den Aktionen betroffen. Im "Sommernachtstraum" des Letztgenannten wurde von der Uni Aberdeen "Klassismus" ausgemacht. Auch Jane Austen, Charlotte Brontë und Agatha Christie haben Triggerwarnungen erhalten. Traditionellen Märchen geht es wegen Grausamkeit gegen Tiere an den Hals.

Fakten-Ausweichmanöver

Preise schützen vor Strafe nicht, Kanonisierung ebenso wenig, und auch Faktizität hilft nicht. Das Tagebuch des Briten Thomas Thistlewood über sein Verhalten als Sklavenbesitzer in Jamaika im 18. Jahrhundert, das Einblicke in das Plantagenleben sowie Kauf und Verkauf von Sklaven gibt, müssen Geschichtsstudierende wegen seiner Darstellung von sexuellem Missbrauch und Gewalt nicht mehr lesen, wenn sie nicht wollen. Ebenso "The History of Mary Prince", das 1831 als erster Bericht des Lebens einer Sklavin in Großbritannien veröffentlicht wurde. Wird sich dadurch die Geschichte der Sklaverei für kommende Generationen harmloser darstellen? Kann man sie begreifen, wenn man solche Details ausblendet? Das sorgt nicht nur Wissenschafter.

Es geht bei all den Fällen nicht um mangelnde Qualität oder Sensibilität eines Textes. Viele der Texte haben auf den Listen feministischer, antirassistischer und antikolonialistischer Literatur Fixplätze. Auch deutschsprachige Werke sind betroffen. An der Uni Warwick kann man die Lektüre von Thomas Meineckes "Tomboy" verweigern, weil es zu provokante Gesten zur Genderthematik setze.

Passend dazu ergab heuer eine Umfrage, dass britische Studierende heute weniger tolerant gegenüber anderen Meinungen seien als vor sechs Jahren. Zugleich befürworteten sie häufiger Einschränkungen der freien Rede. So gewinnt ein hochbedenkliches, sich selbst verstärkendes System an Schwung. (Michael Wurmitzer, 23.8.2022)