Die Wechselstromstimulation soll Hirnschwingungen anregen und für ein besseres Gedächtnis sorgen.

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Wer an vier aufeinanderfolgenden Tagen für 20 Minuten eine elektrische Hirnstimulation bekommt, kann sich auch noch einen Monat später Dinge besser merken, zeigt das Ergebnis einer im Fachblatt "Nature Neuroscience" veröffentlichten Studie. Ein beachtlicher Wirkungszeitraum, finden Expertinnen und Experten. Könnte das ein Durchbruch in der Forschung zur Behandlung demenzkranker Menschen sein?

So einfach ist das nicht, relativieren Fachleute bei einem genaueren Blick auf die Studie – wobei es sich genau genommen nicht um eine klinische Studie handelt, sondern um eine neurowissenschaftliche Grundlagenarbeit, betont Wolf-Julian Neumann von der Klinik für Neurologie der Berliner Charité. Für ebendiese Grundlagenarbeit leiteten die Forschenden elektrische Ströme über Elektroden in einer Kopfhaube auf die Kopfhaut der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, während diese fünf Listen mit 20 Wörtern hörten, an die sie sich erinnern sollten.

Wenig Probandinnen und Probanden

Die sogenannte transkranielle Wechselstromstimulation soll Hirnschwingungen anregen und dadurch die Neuroplastizität begünstigen. Darunter versteht man erfahrungsbedingte Veränderungen des Gehirns, die die Grundlage des Lernens und Gedächtnisses bilden. Die Forschenden zielten mit zwei unterschiedlichen Stimulationsfrequenzen auf zwei Hirnregionen ab: Die Stimulierung des inferioren Parietallappens mit einer Frequenz von vier Hertz verbesserte den Abruf der Wörter am Ende der Liste – ein Hinweis auf die Speicherung im Arbeitsgedächtnis. Die Stimulierung des dorsolateralen präfrontalen Kortex mit 60 Hertz dagegen begünstigte den Abruf der Wörter am Anfang – was eher für eine Verankerung im Langzeitgedächtnis spricht.

Und tatsächlich konnten die untersuchten Menschen am Ende die Wortliste schneller abrufen, wenngleich die Gruppe an Probandinnen und Probanden relativ klein ist. Insgesamt wurden 150 Personen im Alter zwischen 65 und 88 Jahren untersucht.

Die Teilnehmenden mit den niedrigsten kognitiven Leistungen zu Beginn der Studie profitierten am meisten von der Hirnstimulation. Ausgehend von ihren Ergebnissen betonen die Forschenden, dass neben den potenziellen Vorteilen für gesunde, ältere Erwachsene auch die Auswirkungen auf Menschen mit neuropsychiatrischen und neurodegenerativen Erkrankungen untersucht werden sollten, insbesondere bei jenen mit Gedächtnisdefiziten und Demenzrisiko.

Gehirne von Demenzkranken anders als von Gesunden

Die geringe Zahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern ist aber nicht der einzige Aspekt, im Hinblick auf den Fachleute die Ergebnisse relativieren. Man könne daraus kein therapeutisches Vorgehen ableiten, weil die gezeigte Wirkung sehr spezifisch und klein sei, betont Neumann von der Berliner Charité: "Die Studie erregt die Aufmerksamkeit der Hirnforscher, weil sie prinzipielle Mechanismen zur Beeinflussung bestimmter Hirnfunktionen durch unterschiedliche Stimulationsrhythmen aufzeigt." Konkret zeigen die Ergebnisse, dass manche Probandinnen und Probanden sich "minimal besser" an die ersten vier Wörter der Wortliste mit insgesamt 20 Wörtern erinnern können: "Es ist wichtig, hier festzuhalten, dass die verbleibenden 16 nachfolgenden Wörter nicht besser erinnert wurden", sagt Neumann.

Auch Johannes Levin, Professor für klinische Neurodegeneration, warnt vor zu viel Euphorie: "Ich sehe es immer kritisch, wenn durch solche oder vergleichbare Studien die Hoffnung geweckt wird, man habe hier vielleicht eine Behandlungsmöglichkeit für den kognitiven Verfall im Alter oder aber auch bei Demenzkranken gefunden." Man dürfe nicht vergessen, dass die Gehirne von Demenzkranken pathologisch betrachtet anders sind als jene von gesunden Menschen.

Für eine klinische Untersuchung an einem an Demenz erkrankten Menschen lässt sich aus der Studie derzeit also kein Nutzen ableiten. "Sie weist aber in die richtige Richtung", sagt Neumann und ist sich sicher: "Der Weg zum neurotechnologischen Durchbruch in Neurologie und Psychiatrie ist noch weit. Ich bin aber überzeugt, dass er kommen wird." (poem, 22.8.2022)