Ein leichter Job ist es definitiv nicht, den Johannes Rauch seit nun bald sechs Monaten hat. Er ist der bereits dritte Gesundheitsminister seit Pandemiebeginn. Dabei ist die Corona-Bewältigung nur eine von mehreren großen Zielscheiben für Unzufriedenheit. Pflegenotstand, Ärztemangel oder die völlig unzureichende psychische Betreuung vor allem von Jugendlichen in der Krise machen den Job zu einer wahren Herkulesaufgabe – ganz zu schweigen von der komplizierten Finanzierungssituation im föderalen Österreich.

Immer an der Seite des Gesundheitsministers Johannes Rauch ist Katharina Reich, Chief Medical Officer.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Immer an der Seite des Ministers ist Katharina Reich, Chief Medical Officer. Die politische Quereinsteigerin kam ebenfalls während Corona ins Ministerium. Frustriert oder angeschlagen scheinen beide trotz viel Gegenwinds nicht. Eher versprühen sie eine Art "Jetzt erst recht"-Stimmung. Und die braucht es auch. Denn das österreichische Gesundheitssystem ist aktuell selbst ein Patient.

STANDARD: Das Gesundheitsministerium steht stärker im Fokus, als es das wohl je zuvor getan hat. Waren Sie auf diese Turbulenzen eingestellt, als Sie den Job angetreten sind?

Rauch: Ich bin als dritter Gesundheitsminister in der Pandemie eingestiegen, natürlich habe ich mitbekommen, was sich davor abgespielt hat. Aber trotzdem hat es mich überrascht, welche Wellen manche Dinge schlagen.

Reich: Als Quereinsteigerin in der Position ist es insofern hart, als ich die Beamtenschule nicht mitgemacht habe. Ich hatte natürlich eine Vorstellung davon, worauf ich mich einlasse. Aber wie unvorhergesehen die Dinge kommen, welche Reaktionsmöglichkeiten man hat, muss man erst einmal lernen und auch trainieren.

STANDARD: Was hat Sie überrascht?

Rauch: Ich hatte eine ungefähre Vorstellung von der Komplexität der Finanzierung des Gesundheitssystems und der Bund-Länder-Verflechtung, dem Dreigestirn aus Sozialversicherung, Bund und Ländern. Vor allem bei den unterschiedlichen Finanzierungsformen stößt man immer wieder an Grenzen. Mein Ansatz ist, die Durchlässigkeit dieser Systeme zu verbessern. Aber um das zu bewerkstelligen, muss man sich langsam vortasten – fast wie im Dschungel.

Reich: Es gibt auch Themen, bei denen sich alle einig sind. Doch selbst dann dauert es, bis man die exakt richtige Formulierung für alle Beteiligten findet. Dieses Ringen um Worte und Sätze hätte ich mir "flotter" vorgestellt.

STANDARD: Ein großer Diskussionspunkt ist die Finanzierung. Manche Leistungen werden vom Bund bezahlt, andere von Ländern oder Gemeinden. Warum ist das so kompliziert?

Rauch: Weil Österreich ein föderaler Staat ist. Nach dem EU-Beitritt ist zu den bestehenden eine weitere Ebene dazugekommen. Es gab aber keine Reform, die Zuständigkeiten klar benannt und geteilte Zuständigkeiten beseitigt hat. Darum ist dieses System per se ineffizient.

Reich: Es stimmt, wir haben zu viele Finanzierungstöpfe. Wir geben beispielsweise etwas fürs Impfen aus, damit wir uns kranke Patientinnen und Patienten ersparen. Aber wenn das nicht in den gleichen Topf, wo es ausgegeben wird, wieder retourkommt, dann ist das problematisch. Diese Umwegrentabilität – der eine gibt etwas aus, der andere spart es sich ein – ist die größte Diskussionsmasse. Dabei geht es am Ende für alle darum, dass wir weniger kranke Menschen haben, unser Gesundheitssystem weniger belasten und die Spitalskosten reduzieren.

Rauch: Jeder Kostenträger schaut nur darauf, die Kosten im eigenen Bereich zu minimieren, nicht, was volkswirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich sinnvoll wäre, um die Gesundheit der Menschen insgesamt zu verbessern.

STANDARD: Das Problem ist ja nicht neu. Was können Sie als Gesundheitsminister dagegen tun?

Rauch: Das ist eine gute Frage. Ich kann resignieren – oder versuchen, die Dinge wenigstens in Bewegung zu bringen. Ich habe mich mit der Ärztekammer, der Sozialversicherung und den Bundesländern bereits getroffen, um hier einmal eine Gesprächssituation zu schaffen. Da versuche ich immer wieder klarzumachen: Es gibt nicht nur zwei Aggregatzustände im Gesundheitssystem oder beim Menschen, nämlich gesund oder krank. Vorsorge, Nachsorge oder Rehabilitation sind mindestens so wichtig. Ich bin sozusagen ein Moderator, der versucht, den Leuten beizubringen: Es geht um das Gesamte, nicht nur um Bilanzen.

"Niemand kann gesund sein, wenn die Umwelt nicht gesund ist." Katharina Reich
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Reich: Ein Lösungsansatz ist, aus vielen Töpfen einen gemeinsamen zu schaffen. Das ist beim nationalen Impfprogramm, das ab 2023 gilt, gelungen. Alle Player zahlen dafür in einen gemeinsamen Topf ein. So eine Lösung möchten wir auch in anderen Bereichen ausarbeiten. Das wird nicht von heute auf morgen gelingen, es wäre eine Illusion, da einfach drüberfahren zu können. Aber das Impfprogramm ist ein großer erster Erfolg in diesem Bereich.

Rauch: Fast schon ein historischer Moment!

STANDARD: Was muss sich sonst noch ändern?

Rauch: Wir wollen einen ganzheitlichen Ansatz von Gesundheit in die Köpfe der Menschen bekommen. Gesundheit ist ja nicht nur die Abwesenheit von körperlicher Erkrankung. Dazu gehören auch die psychische Gesundheit, die Teilhabe an der Gesellschaft. Und es geht darum, die Anzahl der gesunden Lebensjahre zu erhöhen. Viele Menschen haben eine Art Vollversorgungsmentalität – man wird schon repariert, wenn etwas ist. Das wollen wir aufbrechen.

Reich: Diese leicht passive Haltung ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen hier moderner denken, denn wir haben alle unseren Anteil am Gelingen dieses Projekts. Um die gesunden Lebensjahre zu verlängern, müssen wir aber schon viel früher ansetzen, die Kinder- und Jugendgesundheit verbessern. Das fängt an bei regelmäßigen Impfzyklen für die Kinder und geht über die Ernährung in den Schulen bis zur Gesundheitskompetenz, die in der Schulbildung verankert werden muss.

Rauch: Wir haben etwa eine extrem hohe digitale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen, aber vergleichsweise wenig Verständnis für Gesundheit. Hier müssen wir ansetzen.

STANDARD: Und wie soll das gelingen? Das sind ja alles keine neuen Ideen.

Reich: Dafür haben wir drei Kompetenzzentren mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegründet. Die sind eine Art Thinktank mit Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen. Eines erforscht, wie ein gesundheitsförderndes System aussehen muss – derzeit ist es ja eher auf Kranksein ausgerichtet. Das zweite Kompetenzzentrum befasst sich mit den Themen Zukunfts- und Gesundheitsförderung, die Digitalisierung ist da ein wichtiger Bereich. Und im dritten Kompetenzzentrum geht es um Querschnittsthemen rund um Klima und Gesundheit. Niemand kann gesund sein, wenn die Umwelt nicht gesund ist.

Rauch: Dieser Ansatz, innovativ und vernetzt zu denken, ist uns sehr wichtig. Nicht so eindimensional zu sein, sondern über Dinge nachzudenken, die es noch gar nicht gibt.

STANDARD: Und ab wann soll es da Ergebnisse geben?

"Der positive Aspekt von Krisen ist, dass etwas in Bewegung kommt." Johannes Rauch
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Rauch: Im Lauf des nächsten Jahres werden wir erste Ergebnisse auf dem Tisch haben.

Reich: Das Projekt ist auf mehrere Jahre ausgelegt, auf jeden Fall bis Ende 2024. Das geht absichtlich über die Regierungsperiode hinaus, damit wir diese Themen weiterziehen können.

STANDARD: Manche Themen wie der Personalmangel in der Pflege drängen aber zu sehr. Wie will man da langfristig Menschen halten?

Rauch: Wir haben jetzt eine Milliarde Euro als Anschubfinanzierung für bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen und um in die Ausbildung zu investieren. Aber bis sich das wirklich ändert, dauert es natürlich noch, das ist klar. Deshalb mache ich eine ganz klare Ansage: Wir haben in Österreich einen Arbeitskräftemangel und werden im Gesundheits- und Sozialbereich Zuwanderung brauchen. Anders können wir das nicht lösen, es geht sich von der Demografie her schlicht und ergreifend nicht aus.

Reich: Ein Thema ist mir in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Man hört vom Pflegeberuf derzeit nur furchtbare Dinge über Dienstzeiten, Bezahlung und mehr. Dabei ist das ein wunderschöner Beruf mit wirklich vielen Möglichkeiten – der ist ja viel mehr, als nur Menschen im Rollstuhl hin und her zu schieben, wie es oft dargestellt wird. Ich trau mich das sagen, mein Mann ist in der Krankenpflege. Es gibt auch Bereiche in der Pflege, da gibt es Wartelisten von Menschen, die da hinwollen. Das geht in der aktuellen Debatte aber völlig verloren.

STANDARD: Trotzdem hat die Pandemie gezeigt, wie anstrengend der Beruf ist. Reichen die Maßnahmen der jüngsten Pflegereform?

Rauch: Nein, sie reichen nicht. Aber sie sind ein erster Schritt.

STANDARD: Es fehlen auch Ärztinnen und Ärzte. Immer mehr entscheiden sich für Wahlarztordination statt Kassenpraxis. Wie löst man das?

Rauch: Das ist ein Problem auf mehreren Ebenen. Derzeit gehen viele Niedergelassene in Pension. Das sind Stellen, in denen eine Ärztin oder ein Arzt 120 oder mehr Patientinnen und Patienten pro Tag betreut. Da bleibt zu wenig Zeit für die einzelnen Personen. Das hat zur Folge, dass fast schon gezwungenermaßen jene, die es sich leisten können, auf Wahlärzte ausweichen. Was wiederum dazu führt, dass es attraktiver ist, eine Wahlarztpraxis aufzumachen statt eine Kassenpraxis. Die Primärversorgungseinrichtungen, in denen sich mehrere Ärztinnen und Ärzte zusammenschließen gemeinsam mit weiteren Gesundheitsberufen, sind da ein guter Zugang, um eine medizinische Basisversorgung in guter Qualität für alle sicherzustellen.

Reich: Es geht auch darum, das System aufzubrechen, etwa das Spital als Basis, zusätzlich arbeitet man in einer Kassenpraxis. Derzeit kann man nur entweder das eine oder das andere tun, das ist aber ein veralteter Zugang. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist der Facharzt für Allgemeinmedizin, das Konstrukt dafür ist quasi fertig. Damit wird dieser Berufsstand aufgewertet, es wird wieder attraktiver, eine Kassenordination zu eröffnen.

STANDARD: Dieser Ansatz allein wird aber nicht reichen, um den Hausärztemangel zu beheben.

Reich: Nein, natürlich müssen auch die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Aber hier sind wir schon in Gesprächen mit Ärztekammer und Sozialversicherung. Denn es ist allen klar: Da muss sich etwas ändern.

Rauch: Es gibt tatsächlich auch einen positiven Aspekt von Krisenzeiten. Da kommt auf einmal ganz viel in Bewegung, was zuvor undenkbar gewesen wäre. Natürlich ist das ein zäher Prozess, und die Wahrscheinlichkeit zu scheitern ist hoch. Aber es erst gar nicht versucht zu haben, das würde ich mir ewig vorwerfen. (Oona Kroisleitner, Pia Kruckenhauser, CURE, 23.8.2022)

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