Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigt, und damit auch die Zahl der zu Pflegenden. Doch Betreuung fehlt.

Foto: Livia Kappler

Spulen wir um ein paar Monate zurück: Gerade hat der neue Gesundheitsminister Johannes Rauch die lang herbeigesehnte Gesundheitsreform präsentiert. Vorsichtiger Beifall kommt aus nahezu allen Reihen. Tenor: Endlich passiert Sinnvolles.

Nur ein paar wenige Stimmen monieren: Die 24-Stunden-Betreuung wird in dem Entwurf wenig bis gar nicht berücksichtigt. Diese Tatsache wurde vom Minister zwar vernommen, allerdings wohl nur bedingt gehört. Inzwischen hat sich die Situation aber massiv zugespitzt. Grund dafür: die durch den Ukraine-Krieg hervorgerufenen massiven Teuerungen. In kaum einem anderen Bereich sorgen diese für eine derart intensive Verschärfung der Gesamtsituation.

Der Grund dafür liegt in einem ohnehin angespannten System, in dem die höheren Kosten auf allen Seiten gleichzeitig aufschlagen: sowohl bei den Betreuerinnen – es sind fast ausschließlich Frauen – als auch bei jenen, die betreut werden sollen.

"Hier geht eine Schere auf", sagt Christoph Lipinski, Generalsekretär der zuständigen gewerkschaftlichen Initiative Vidaflex, die dazu führe, dass sich "Betreuerinnen nicht mehr leisten können, bei uns zu arbeiten, während Familien, die Betreuung brauchen würden, diese nicht mehr finanzieren können".

Altes Problem, neue Auswirkung

Schuld an der immer offensichtlicher werdenden Notsituation im Bereich der 24-Stunden-Betreuung sind dabei gar nicht die aktuell explodierenden Lebenserhaltungskosten. Diese haben die Angelegenheit bloß verschärft.

Begonnen hat alles bereits im Jahr 2007. Die damalige Bundesregierung beschloss recht eilig das nun vorliegende Modell: Ein Teil der Pflegebedürftigen wird vom Staat mit 550 Euro monatlich unterstützt, um die Leistung der 24-Stunden-Betreuerinnen finanziell stemmen zu können. Diese wiederum kommen fast ausschließlich aus dem nahen östlichen Ausland, wo ein anderes Lohnniveau herrscht, weshalb mit dem in Österreich gezahlten Lohn ein Auskommen möglich wird. So die Theorie.

Doch dieses Wechselspiel, das auf den ersten Blick durchaus nach einer Win-win-Situation klingt, hält genauerer Betrachtung heute nicht einmal mehr ansatzweise stand. So ist ein dichter Dschungel aus vermittelnden Agenturen erwachsen, die alle an dem ohnehin nicht sonderlich großen Kuchen mitnaschen möchten.

Zudem befindet sich der Großteil der Betreuerinnen in einem selbstständigen Arbeitsverhältnis, das kaum Sicherheiten bietet – dafür aber jede Menge Stolperfallen, wie schwer einschätzbare Sozialversicherungsbeiträge oder Steuerabgaben.

Dazu wurde seit nunmehr 15 Jahren die staatliche Förderung nicht an die Inflation angepasst – und schon gar nicht an die nun explodierende Teuerung. Vor allem die gestiegenen Spritpreise schlagen hart auf, die Frauen reisen allesamt mit dem Auto oder mit Bussen an.

Rund 1200 Euro monatlich

Etwa 1200 Euro monatlich verdienen 24-Stunden-Betreuerinnen. Die Betreuten bezahlen dafür im Schnitt 2500 Euro pro Monat.
Foto: Livia Kappler

Die Dimension der finanziellen Mehrbelastung wird deutlich, wenn man sich das Gehalt einer Betreuerin vor Augen führt: ungefähr 1200 Euro monatlich – vor Abzug von Steuern und Sozialversicherung. Für die zu pflegenden Menschen fallen monatlich dagegen rund 2500 Euro an. In Anbetracht der erhöhten Lebenskosten sind diese noch schwieriger aufzubringen als zuvor.

"Wir haben schon Fälle, die uns mit Bedauern mitteilen, dass sie auf die Betreuung verzichten müssen, weil sie es sich nicht mehr leisten können", sagt Harald G. Janisch. Der in der Wirtschaftskammer Wien zuständige Fachgruppenobmann fordert daher: "Die Fördergelder gehören nicht angepasst, sie gehören verdoppelt!"

Denn schon heute können wir in Österreich nicht auf das Modell der 24-Stunden-Betreuung verzichten. Er rechnet vor: "Wenn man Betroffene, Betreuerinnen und Angehörige zusammenzählt, sind von dieser Situation rund eine Million Menschen betroffen."

Wartelisten aufgrund des Personalmangels

Konkret sind aktuell rund 65.000 Betreuerinnen offiziell in Österreich erfasst, weitere 10.000 bis 15.000 dürften ohne Rechtsgrundlage tätig sein, vermutet Janisch. Aufgrund des demografischen Wandels und des steigenden Pflegebedarfs braucht Österreich bis 2030 aber rund 100.000 Pflege- und Betreuungskräfte – und da ist die 24-Stunden-Betreuung noch gar nicht mitgerechnet.

"Wir brauchen zusätzliche Kräfte in allen Disziplinen der Pflege und Betreuung", betont Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin von Hilfswerk Österreich. "Schon jetzt haben wir aufgrund des Personalmangels Wartelisten bei den mobilen Diensten und leere Betten in den Pflegeheimen." Umso wichtiger sei es, die 24-Stunden-Betreuung zu stärken, anstatt sie finanziell auszubluten. "Und natürlich müssen wir alles dafür tun, um zusätzliche Pflege- und Betreuungskräfte ins System zu holen."

Derzeit gelinge es allerdings nicht so gut, den Standort Österreich für ausländische Pflegekräfte attraktiv zu machen. "Österreich wirkt aufgrund der aktuellen Situation nicht sonderlich einladend", sagt Anselm und ergänzt lapidar: "Hier fehlt uns jegliche Strategie!"

Aufwand größer als der Anreiz

Zur Teuerung kommt eine weitere Verschärfung, auf die Gewerkschafter Lipinski hinweist: Inzwischen sei es für Betreuerinnen oft lukrativer, mit dem Flugzeug in ein besser zahlendes skandinavisches Land zur Arbeit zu fliegen, als mit dem Auto nach Österreich zu fahren. Auch kenne er Fälle von Betreuerinnen, die lieber im heimatlichen landwirtschaftlichen Betrieb mitarbeiten, weil mit den Teuerungen der Verkaufspreis mancher Agrarprodukte gestiegen ist. Dadurch verkleinert sich die Differenz zwischen den unterschiedlichen Einkommensoptionen. Der Aufwand, in Österreich einen anstrengenden Betreuungsjob anzunehmen, wird größer als der Anreiz.

Das Ergebnis all dieser Kausalketten liegt auf der Hand: Wir gewinnen nicht etwa zusätzliche Betreuungskräfte, wir verlieren sogar einen Teil jener, die schon da waren. Dementsprechend eindringlich betont Harald G. Janisch: "Wenn wir als Staat dieses Modell der 24-Stunden-Betreuung nicht verlieren wollen, müssen wir dringend Ressourcen bereitstellen!" Damit wir am Ende nicht als Gesellschaft hilflos dastehen. (Johannes Stühlinger, CURE, 14.9.2022)