Präsidentin Tsai Ing-wen besuchte am Jahrestag der zweiten Taiwan-Krise militärische Einrichtungen.

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Taiwan hat ein Nachwuchsproblem bei Jetpilotinnen und -piloten. Es ist unklar, wer die bis 2026 bestellten Flieger steuern soll.

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Teilweise trennen nur zwei Kilometer Festlandchina von Taiwan – die Kinmen-Inseln (Taiwan) vor der Skyline der Stadt Xiamen (Festlandchina).

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Die Heldengeschichte der Schlacht um die Kinmen- und Matsu-Inseln wird einmal mehr heraufbeschworen, um Taiwan gegen die Volksrepublik China zu einen. Vor 64 Jahren habe man bewiesen, dass man die chinesischen Truppen zurückschlagen könne, sagte die taiwanische Präsidentin Tsai Ing-wen anlässlich des Jahrestags der zweiten Taiwan-Krise diese Woche. Man habe damals der Welt gezeigt, dass keinerlei Bedrohung die "Entschlossenheit der taiwanischen Bevölkerung erschüttern kann, die eigene Nation zu verteidigen". Und zwar "weder in der Vergangenheit noch jetzt und nicht in der Zukunft".

Vor allem die Gegenwart bereitet der Insel und ihren Alliierten – insbesondere den USA – Sorge. Denn ein erneuter bewaffneter Konflikt mit der Volksrepublik war schon lange nicht mehr so wahrscheinlich. Vor allem seit dem Besuch von Nancy Pelosi, der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Anfang August bedienen sich Peking und Taipeh am Provokationsvokabular.

Kriegssimulation

Wie solch ein Krieg zwischen Taiwan und Festlandchina ausgehen könnte, simulieren in der US-Hauptstadt Washington, D.C., seit mehr als einem Jahr Fachleute einer Denkfabrik. Expertinnen und Experten aus dem Militär, Verteidigungsministerium und dem Thinktank schieben im Center for Strategic and International Studies (CSIS) rote beziehungsweise blaue Truppen auf (gar nicht so) fiktiven Schlachtfeldern herum.

Die Annahme: Eine chinesische Rakete trifft im Jahr 2026 ein US-Schiff in der Region.

Was geschieht dann?

18 der 22 geplanten Simulationen wurden bereits absolviert – man hantelt sich von den wahrscheinlichsten bis hin zu den extremsten Szenarien, wie der Leiter des US-China-Kriegsspielprojekts, Mark Cancian, dem STANDARD erklärt. Dabei rechnen die Fachleute mit den jeweiligen Waffenarsenalen der Staaten, die diese bereits öffentlich gemacht haben, beziehungsweise Waffensystemen, die noch bis 2026 angeschafft werden sollen. Nuklearsprengköpfe wurden nicht berücksichtigt. Und auch nicht ein mögliches Personalproblem bei der Bedienung der Waffen – denn Taiwan hat etwa bis 2026 nicht genügend Pilotinnen oder Piloten, um alle bis dahin georderten Kampfjets zu fliegen.

In den bisherigen Kriegsrunden ist es China noch nicht gelungen, Taiwan vollständig zu besetzen und zu halten. Den USA und den taiwanischen Streitkräften gelingt es mal besser, mal schlechter, die Truppen der Volksarmee zurückzuschlagen – doch jedes Mal mit hohen Verlusten. Chinesische Raketen zerstören etwa einen großen Teil der US-Überseeflotte und hunderte Flugzeuge, die sich noch auf den Luftwaffenstützpunkten befinden. Rund 900 US-Flieger sind in einigen Simulationen Schrott – etwa die Hälfte der Kapazität der Navy und Airforce. Gegenangriffe vernichten die chinesische Amphibien- und Überseeflotte. Rund 150 Schiffe werden versenkt.

DER STANDARD

Die Rolle Japans

Für Cancian, der früher Analyst für das Verteidigungsbudget im Weißen Haus und selbst US-Marine war, ist es essenziell, dass die Vereinigten Staaten auf U-Boote und Bomber mit Langstreckenraketen setzen. Taiwan benötigt laut Einschätzung des Experten vor allem Antischiffsraketen, weniger Kampfschiffe oder Jets.

Bei den Simulationen spielt aber auch die Bereitschaft Japans eine Rolle, die US-Militärbasen auf seinem Staatsgebiet für den Kampf zu nutzen. Die als "Selbstverteidigungsstreitkräfte" benannte Armee des formell pazifistischen Inselstaats nimmt in den Annahmen keine aktive Rolle ein, zumindest solange japanisches Staatsgebiet nicht direkt angegriffen wird. In den – aus US-taiwanischer-Sicht – pessimistischeren Szenarien, die bis September noch absolviert werden sollen, verweigert etwa Japan die Nutzung der Basen – oder die USA verzögern ihre militärische Hilfe für Taiwan, weil sie "durch ein anderes Ereignis", wie Cancian sagt, abgelenkt sind.

Faktor Ukraine

Als das Kriegsspiel im Oktober 2021 begonnen wurde, war genau dieses Ereignis noch rein hypothetisch. Nun wird die Aufmerksamkeit Washingtons sehr wohl durch den Krieg in Europa beansprucht. Aber haben die militärischen Hilfen für die Ukraine Auswirkungen auf die Kampfstärke im Pazifik? Nicht wirklich, sagt Cancian. Denn während es für den Kampf in der Ukraine vor allem Waffen für den Landeinsatz brauche, seien es im Pazifik Luft- und Seewaffen.

Selbst von den USA an die Ukraine gespendete Antischiffsraketen würden die Einsatzkraft von Taiwan nicht schwächen, da Taipeh seine Waffen auf dem Weltmarkt beschafft: "Die an die Ukraine gesendeten Harpoon-Raketen haben eine kürzere Reichweite als die im Pazifik benötigten LRASM-Raketen. Und die USA besitzen ein relativ großes Arsenal."

Ergebnis im Dezember

Ein Endbericht der Kriegssimulationen soll im Dezember veröffentlicht werden, was ungewöhnlich ist, wie der Experte anmerkt. Normalerweise seien solche Kriegsspiele unter Verschluss. "Doch bei diesem können wir alle Details offen mit Medien besprechen", sagt Cancian, was er als wichtig für eine informierte öffentliche Debatte bezeichnet.

Wie viele Menschen bei einer geplanten chinesischen Invasion ihr Leben verlieren würden, wird erst mit dem Endbericht berechnet sein. Ebenso die wirtschaftlichen Schäden. Fest steht aber schon jetzt, dass "beträchtliche Kämpfe in taiwanischen Städten" zu schweren Schäden an der Infrastruktur, wie zerstörten Häfen und Flugfeldern, führen würden. Das könnte die taiwanische Wirtschaft nachhaltig schwächen. (Bianca Blei, 24.8.2022)