Spazieren am Tsanfleurongletscher. Die Daten des Schweizer Gletschermonitoringsystems lassen befürchten, dass die wiederholt hohen Temperaturen in diesem Sommer die Gletscherschmelze beschleunigen.
Foto: APA/KEYSTONE/ANTHONY ANEX

Die Fotografie hat nicht nur Medien und Kunst revolutioniert, sondern auch die Wissenschaft. Ein Beispiel dafür ist mittlerweile auch die Klimaforschung: Bilder, die vor einhundert Jahren aufgenommen wurden, lassen Vergleiche mit der heutigen Geografie eines Ortes zu. Das machte sich ein Schweizer Forschungsteam zunutze. Es berechnete die Veränderungen von Schweizer Gletschern – auf der Grundlage von 21.700 Fotografien, die zwischen 1916 und 1947 aufgenommen wurden.

Die Forschungsgruppe der ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) wies so auf einen markanten Gletscherschwund hin. Zwischen 1931 und 2016 halbierte sich das Volumen der eisigen Gebilde, wie die Wissenschafter im Fachjournal "The Cryosphere" schreiben.

Im Vergleich: Der Blick auf den Fieschergletscher von der Märjelenalp aus, 1928 und 2021. Quellen: swisstopo und VAW / ETH Zürich

Fehler früherer Messungen

Basierend auf den Fotografien ermittelte das Team die Oberfläche und das Volumen der Gletscher. Die Topografie aller Schweizer Gletscher wurde für das mittlere Jahr 1931, das als Referenz dienen sollte, rekonstruiert und mit Daten aus den 2000er-Jahren verglichen. So ließ sich erstmals rekonstruieren, wie sich die Gletscher im 20. Jahrhundert entwickelt haben.

Der Blick vom Schwarzsee auf den Gornergletscher und das Monte-Rosa-Gebiet. Quellen: swisstopo und VAW / ETH Zürich

Bisher fußte das Bild der Gletscherveränderungen vor allem auf langfristigen Gletscherbeobachtungen und -messungen im Feld und auf Luftbildaufnahmen aus den Jahren nach 1960. Zudem gab es nur bei wenigen Schweizer Gletschern regelmäßige Messungen, zum Beispiel beim Claridenfirn in den Glarner Alpen. Bei diesen älteren Daten kann es zudem zu größeren Verzerrungen kommen, weil sich die Fehler von früheren, ungenauen oder unsicheren Messungen anhäufen.

Schutt beeinflusst Schwund

Zwar seien nicht alle Gletscher jedes Jahr geschmolzen, in den 1920er- und 1980er-Jahren wuchs die Masse zum Teil sogar vereinzelt, gesamthaft war das Klima im 20. Jahrhundert aber ungünstig für Gletscher. Zudem seien die Gletscher im Verlauf der Zeit immer schneller geschmolzen.

Der Blick von der Alp Ota auf den Vadret da Tschierva und den Piz Roseg. Quellen: swisstopo und VAW / ETH Zürich

Die Studie zeigt weiter, dass nicht alle Gletscher gleich vom Schwund betroffen waren. Wie stark ein Gletscher geschmolzen ist, hängt demnach davon ab, auf welcher Höhe er sich befindet, wie flach die Gletscherzunge ausläuft und wie stark er mit Schutt bedeckt ist.

Szenarien für die Zukunft

"Auch wenn es über kürzere Zeiträume zu einem Zuwachs kam, ist es trotzdem wichtig, das Gesamtbild im Auge zu behalten", sagt Daniel Farinotti, Professor für Glaziologie an der ETH Zürich und einer der Studienautoren. Das Gletschervolumen nehme immer schneller ab: In den 85 Jahren zwischen 1931 und 2016 ging es um die Hälfte zurück, in den vergangenen sechs Jahren allerdings um zusätzliche zwölf Prozent.

"Der Gletscherschwund beschleunigt sich", sagt Farinotti. Die genaue Beobachtung und der Vergleich mit historischen Daten seien wichtig, um auf die Reaktionen der verschiedenen Gletscher auf das sich verändernde Klima zu schließen. "Solche Informationen sind notwendig, um verlässliche Gletscherszenarien für die Zukunft zu entwickeln." (red, APA, 23.8.2022)

DER STANDARD