Kindheit in der Krise – und die Betreuungsplätze fehlen. Corona macht einen Missstand sichtbar, der schon lange existiert.

Foto: Mafalda Rakoš

Bis in den ersten Stock sind es 32 Stufen. In der Küche kleben 14 Fliesen der Länge nach, sieben quer. Im Wohnzimmer sind acht Steckdosen, im Bad sechs. Anna* weiß das, trotzdem zählt sie immer wieder. "Meine Tochter war immer schon zwänglich", sagt ihre Mama Silvia*. Sogar im Urlaub in Italien wird nach der Ankunft erst einmal penibel das Hotelzimmer strukturiert und eingerichtet wie zu Hause. Für die Disney-Figuren, die Anna aufstellt, gibt es eine genaue Reihenfolge. Arielle muss links neben Rapunzel stehen, nicht andersrum. Die wird bestimmt einmal super in Mathe, denkt Silvia, so strukturiert, wie sie ist.

Jahre später wird sich herausstellen, dass das System Schule für Anna nicht funktioniert. "Sie war vom Tag des Schuleintritts an überfordert und hat eine ganz schlimme Rechenschwäche", erzählt Silvia, die selbst Lehrerin ist. Während Corona ging ihr die Luft aus.

Silvia ist die Mutter einer Patientin – sie möchte anonym bleiben.
Foto: Mafalda Rakoš

Die Belastungen durch Homeschooling und Lockdowns blieben an den Eltern hängen – zumeist an Müttern, die oft den Großteil der Erziehungsarbeit leisten. Alleinerzieherin Silvia isolierte sich mit ihrer Tochter, verbrachte Monate in Alarmbereitschaft, bis es irgendwann nicht mehr ging: "Wir sind spazieren gegangen, und Anna meinte, sie überlegt die ganze Zeit, ob sie sich vor das nächste vorbeifahrende Auto werfen soll."

Wer ist gefährdet genug?

Am Ende resultierte daraus ein sechsmonatiger stationärer Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP) Hinterbrühl. Die Einrichtung liegt im Grünen, unter Pinienbäumen stehen zahlreiche Schaukeln und Sitzecken. Zwei Buben scheinen Verstecken zu spielen. "Haben Sie einen blonden Buben vorbeilaufen sehen?", versucht sich einer bei der Suche ganz ungeniert Hinweise von Besucherinnen zu erschummeln.

Hier, knapp 30 Autominuten südwestlich von Wien, werden Kinder und Jugendliche mit Störungen des Erlebens, des Verhaltens oder mit Entwicklungsstörungen psychotherapeutisch und psychiatrisch behandelt. Dazu zählen depressive Erkrankungen, Angststörungen, Psychosen, posttraumatische Belastungsstörungen. Manche Betroffenen sind suizidgefährdet.

Die Ergotherapie, in der oft mit Spielzeugtieren gearbeitet wird, ist ein Teil der interdisziplinären Behandlung.
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Anna wird sofort aufgenommen, für einen Akutfall ist Platz. Demgegenüber müssen Betroffene auf einen geplanten Aufenthalt oft sechs bis acht Monate warten. Damit ist der Standort in Hinterbrühl, der neben den Bezirken der Thermenregion auch das nördliche Burgenland mitversorgt, kein Einzelfall.

Die fehlenden Therapieplätze sind ein strukturelles Problem, wie Zahlen zeigen: Gemessen an der Einwohnerzahl sollte es in Österreich für die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung 890 Betten geben. Im Jahr 2020 waren es nach Angaben der Gesundheit Österreich GmbH 349. Und auch im niedergelassenen Bereich fehlt es an Anlaufstellen. Es sollte 111 Kassenordinationen geben, laut Ärztekammer gab es Ende 2021 etwa ein Drittel davon.

Mehr Anfragen als Betten

Dabei wäre der Bedarf groß. Die Belastung von Jugendlichen ist "besorgniserregend", zeigt eine Studie. Das beobachtet man auch beim Wiener Kriseninterventionszentrum. Im vergangenen Jahr haben sich rund 20 Prozent mehr Menschen als sonst gemeldet. Junge Menschen rufen vor allem wegen Ängsten, Depressionen oder Suizidgedanken bei Seelsorgenummern an.

Nele* ist eine von ihnen. Im April 2021 sitzt sie alleine in ihrem Zimmer, fühlt sich zu dick, obwohl sie kaum noch isst, und sieht keinen Sinn mehr im Leben. Die Scheidung der Eltern und die Lockdowns haben ihr zugesetzt. Den Alkohol hat sie schon getrunken, die Tabletten liegen noch neben ihr. "Wenn man im Internet eingibt: ‚Ich will mich umbringen‘, steht da eine Telefonnummer", sagt sie. Als sie bei der Telefonseelsorge anruft, kommt ihre Mutter ins Zimmer.

Diese ruft die Rettung, für eine Nacht kommt Nele auf die Akutstation der KJPP Hinterbrühl. So richtig erinnert sie sich nicht mehr daran – auch weil sie zu dem Zeitpunkt betrunken war. Dass die Ärztinnen lange diskutiert haben, ob sie sie hierbehalten, weiß sie aber noch. "Dann wurde ich gleich am nächsten Tag runterverlegt, weil auf der Akutstation eigentlich kein Platz war", erzählt sie. Runter, das heißt in den regulären, stationären Bereich. Sie sei von den sechs Jugendlichen im Akutbereich noch am stabilsten.

Form der Triage

Diese Risikoabwägung ist eine Form der Triage, findet Judith Noske. Seit 2019 hat sie die ärztliche Leitung der KJPP Hinterbrühl inne. "Es gibt mehr Anfragen, als wir Betten haben", sagt sie. Das hat sich mit Corona zwar verstärkt, wie Geschichten wie die von Nele zeigen, aber Kinder- und Jugendpsychiatrien waren schon lange davor belastet.

Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP) Hinterbrühl: Die Einrichtung liegt im Grünen, unter Pinienbäumen stehen zahlreiche Schaukeln und Sitzecken.
Foto: Mafalda Rakoš

Das Wissen über das drohende Zusammenbrechen des Versorgungssystems ist nur jetzt erst in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen. Im Februar 2022 brachten elf Ärztinnen und Ärzte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Klinik Hietzing eine Gefährdungsanzeige ein und wiesen auf massive Personalengpässe hin. "Die Situation ist komplex", meint Noske. "Wenn die Sicht von Fachleuten nicht in Planungen einbezogen wird und wir keine konkrete Unterstützung bekommen, dann besteht die Gefahr, dass das System zusammenbricht."

Um dem entgegenzuwirken, werden am Standort Hinterbrühl laufend Maßnahmen gesetzt, um die Situation zu verbessern. Das Leitungsteam bemüht sich um mehr Ressourcen und attraktivere Arbeitsbedingungen, damit sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht womöglich eine Arbeit mit weniger belastenden Bedingungen suchen, bei der man mehr verdient.

Fokus auf Akutversorgung

Ein besonderer Fokus liegt auf der Akutversorgung: "Es muss möglich sein, bei akuter Gefährdung ein stationäres Bett zu organisieren. Darauf hat jede und jeder Recht und Anspruch", betont Noske. Das gehe in der Praxis allerdings oft auf Kosten von diagnostisch-therapeutischen Plätzen: "Wir verschieben dann Betten aus dem Therapiebereich in den Akutbereich."

Damit produziere man – "und das ist sehr, sehr schade und dramatisch" – Chronifizierungen, das heißt: Kinder und Jugendliche, die eine nachhaltige, interdisziplinäre Behandlung bräuchten, bekommen diese Möglichkeit nicht: "Man bleibt beim Feuerlöschen", sagt Noske.

Vor eineinhalb Jahren stand Joey* vor den Türen zur Akutambulanz. Ihre Mutter und ihre beste Freundin hatten sie hergebracht: "Mit 14 habe ich zu meiner Mama gesagt, dass ich Hilfe brauche." Dabei war sie nicht zwingend traurig, sagt Joey: "Da war nur Leere. Wie ein leeres Glas, das aufgefüllt werden muss, aber irgendwie hat es unten ein Loch."

Gedankenspirale

Während Corona fehlte ihr eine Tagesstruktur. Abends, wenn alles erledigt war und alle anderen schlafen gingen, begannen Joeys Gedanken zu kreisen. Sie versuchte sich abzulenken, chattete mit Freundinnen. Aber wenn jemand nicht sofort antwortete, kamen die Verlustängste. "Das steigerte sich dann so lange, bis ich dachte: ‚Wenn ich nicht leben würde, wäre es besser‘", erzählt sie.

Sie wurde stationär aufgenommen, lebt in einer Wohngruppe und wird heilpädagogisch, sozialpädagogisch und psychiatrisch betreut. Kaum etwas in den Wohnbereichen erinnert an ein klinisches Setting. Nach dem Kochen wird im Essbereich gemeinsam gespeist, das Wohnzimmer ist der zentrale Treffpunkt jeder Wohneinheit.

Nicht alle können wie Nele, Anna und Joey aufgenommen und interdisziplinär behandelt werden – etwa mit Logopädie, Musiktherapie, Psychotherapie oder Ergotherapie. "Das macht mich jedes Mal wirklich traurig", sagt Noske. Sie weiß, was den Jugendlichen wirklich helfen würde, scheitert aber immer wieder am strukturellen Ressourcenmangel.

Zurück ins Leben

Auf dem Asphalt vor dem Haus sind bunte Handabdrücke. Es sind die Handabdrücke von Kindern und Jugendlichen und ihren Betreuungspersonen, die sich nach ihrem Aufenthalt als Erinnerung hier verewigen. Auch Silvias und Annas Hände haben hier ihren Platz gefunden.

In Heilstättenklassen will man den Schulunterricht aufrechterhalten.
Foto: Mafalda Rakoš

Nele kommt dieser Tage nur noch manchmal für ambulante Behandlungen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie – Abwiegetermine etwa, um sicherzustellen, dass ihr Gewicht stabil bleibt. Eigentlich hatte Nele die Schule abgebrochen, aber sie will später unbedingt etwas Soziales machen, sagt sie. Ab September wird sie deshalb wieder zur Schule gehen. Den Bezug zur Schule hält man in der KJPP auch über Heilstättenklassen aufrecht. Das langfristige Ziel ist, dass die Kinder und Jugendlichen wieder in ihre Stammschule – also die Schule, die sie vor ihrem Aufenthalt besuchten – zurückkehren.

Nach dem Aufenthalt

Wenn abends Joeys Gedanken kreisen, schreibt sie heute nicht mehr nur mit Freundinnen, sondern auch an ihrem Buch, einem Fantasyroman. Zwei Protagonisten glauben, gute Freunde zu werden. Einer ist ein Antagonist, das erfährt man aber erst am Ende: "Er nutzt seine Freundin aus und bringt sie um." 80 Seiten hat Joey schon. Im Buch kann sie die Realität so erschaffen, wie sie das möchte: "Wenn ich den Regen vermisse, lasse ich es einfach im Buch regnen." Später will Joey Ärztin werden und wirkt nahezu euphorisch: "Stell dir vor, jemand fällt hin, schürft sich auf, und ich kann dann sagen: ‚Ich mach dir das schnell wieder gut!‘"

Anna startet im Herbst in einer Sonderschule. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist distanzierter geworden. "Aber das ist gut", betont Silvia. Früher wollte Anna ihre Mutter keine Minute allein lassen, das gemeinsame Leben war Annas Zwängen untergeordnet. Das Abholen nach dem sechsmonatigen stationären Aufenthalt fühlt sich für die Mutter nahezu befremdlich an: "Anna war ein Kind. Dieses Kind ist in eine Krise gerutscht, und jetzt ist sie plötzlich ein Teenager."

Vieles ist anders. Damit sie nach dem stationären Aufenthalt wieder zueinanderfinden, fahren sie gemeinsam für ein paar Tage in die Therme. Und manches ist auch gleichgeblieben. In der Therme angekommen, wird das Zimmer erst einmal strukturiert, ausgepackt und aufgeräumt – nur aus den Disney-Figuren sind jetzt Lippenstifte geworden. (Magdalena Pötsch, CURE, 15.10.2022)

*Namen von der Redaktion geändert