Kürzlich lud Kamala Harris zu einem runden Tisch an ihrem Amtssitz ein. Sie nahm den 32. Jahrestag des Americans With Disabilities Act zum Anlass, mit Menschen mit Behinderungen über die Konsequenzen des Abtreibungsurteils des Supreme Court zu sprechen. Ein Thema, das der Stellvertreterin Joe Bidens glaubhaft am Herzen liegt – und das ihr zuletzt geholfen hat, ihr angeschlagenes Image aufzupolieren.

Die Vizepräsidentin sitzt mit einer schwarzen Maske am Kopfende des Tisches und stellt sich der Runde vor. "Ich bin Kamala Harris. Meine Pronomen sind 'sie' und 'ihr'. Und ich bin eine Frau, die mit einem blauen Anzug am Tisch sitzt." Ein banaler Moment, der sich im Internet wie ein Lauffeuer verbreitete. Unfair, gewiss, wegen des fehlenden Kontexts ihrer Vorstellung, die sich an ein Publikum richtete, in dem sehgeschädigte Menschen saßen. Aussagekräftig aber, weil es vielen plausibel schien, dass Harris in diesem Moment etwas von ihrer Persönlichkeit offenbart hatte.

Die ehrgeizige Aufsteigerin wird innerhalb und außerhalb ihrer Partei als kalkulierend wahrgenommen. Ein wenig so wie Hillary Clinton, die je nach Publikum verstand, den richtigen Ton anzuschlagen. In diesem Fall stellte sich Harris unglücklich an. Mit dem Gebrauch der Pronomen signalisierte sie politische Korrektheit, während die Beschreibung ihrer Kleidung Feministinnen die Luft anhalten ließ.

Große Vorschusslorbeeren

Das Magazin The Atlantic verglich den Auftritt mit der Peinlichkeit, die Mitt Romney einst ausgelöst hatte, als er, nach seinem Lieblingsfleisch gefragt, "hot dogs" sagte. In den USA wird dieses Umschmeicheln der Wähler auch "pandering" genannt. Und genau das ist eines der Probleme, die die mit großen Vorschusslorbeeren ins Amt gestartete Harris in den Umfragen wie ein Anker nach unten reißen. Sie wird als konturlose Opportunistin wahrgenommen.

Die US-Vizepräsidentin hat ein schweres Imageproblem: Kamala Harris kann sich in ihrem Amt nicht profilieren. Ihre Umfragewerte sind im Keller, sie gilt mittlerweile als "schwierig".
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Harris rangiert mit weniger als einem Drittel Zustimmung bei den Wählern noch unterhalb der schwachen Werte Bidens. Ihre Verteidiger machen dafür die Hetze in rechten Medien wie FOX und Breitbart verantwortlich, die von Sexismus und Rassismus geprägt sei. Doch selbst in ihrer Partei hat die einst als "weiblicher Obama" gefeierte Tochter einer Mutter aus Indien und eines Vaters aus Jamaika, die in Kalifornien aufwuchs und an der schwarzen Elite-Uni von Howard in Washington studierte, einen schweren Stand. Falls sich der 79-jährige Präsident umentscheiden und nicht mehr für eine zweite Amtszeit antreten sollte, wäre seine Stellvertreterin nicht automatisch die gesetzte Kandidatin der Demokraten. Eine kürzlich vorgenommene Umfrage in New Hampshire, dem ersten Bundesstaat mit demokratischen Primarys, sieht sie in einem breiten Bewerberfeld abgeschlagen im einstelligen Bereich.

Harris versuchte, von der Diskussion über ihre Ambitionen für 2024 abzulenken, indem sie den Fokus auf den Präsidenten lenkt. Dieser habe erklärt, noch einmal antreten zu wollen. Sie konzentriere sich auf ihre Aufgaben.

Unglücklich

Doch so einfach ist das nicht in einem Amt, in dem sie sprichwörtlich nur einen Herzschlag vom Oval Office weit entfernt ist. Als Biden Mitte August wegen einer Covid-19-Infektion für mehrere Tage ausfiel, fragten mehr Menschen in den USA als vor eineinhalb Jahren: Kann Kamala Harris Präsidentin?

Während sich die ausgebildete Juristin in ihrer kurzen Zeit als Senatorin (2017–2021) auf dem Kapitolshügel mit ihren bohrenden Fragen bei Anhörungen einen Namen machte, wirkt sie als Vizepräsidentin überfordert. In den beiden Aufgabenfeldern, die ihr Biden übertrug – Flüchtlingskrise und Wahlrechtsreform –, machte Harris eine ausgesprochen unglückliche Figur.

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Harris wirkt in ihren Taten oft unglücklich. Das Thema Abtreibung könnte ihr aber in die Karten spielen.
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In einem Interview mit Lester Holt auf NBC wandte sich Harris wie ein Aal bei der Frage, ob sie vorhabe, sich einmal die Situation an der Südgrenze von Mexiko vor Ort anzuschauen. Die Linke verärgerte sie mit einem "Kommt nicht, wir schieben euch ab"-Appell. Nicht viel anders die Bilanz bei der Wahlrechtsreform, die ihre Partei als erstes Gesetz in den neuen Kongress eingebracht hatte. Erreicht hat sie nicht einmal ein "Reförmchen".

Biden habe sie nicht wirklich am Regieren beteiligt, klagen einige, die sie vor dem Vorwurf der Wirkungslosigkeit verteidigen. Während der Präsident selber als Stellvertreter Obamas von seinen wöchentlichen Mittagessen unter vier Augen profitiert habe, setzte Biden diese Tradition mit Harris nicht fort. "Ihre Abwesenheit beim Regieren, als Krisenmanagerin und Gestalterin von Politik, macht sie zu einer ziemlich schwachen Erbin", schreibt Jeffrey Frank in der New York Times. Ein Umstand, der die US-Amerikaner und US-Amerikanerinnen angesichts des Alters des Präsidenten für sich genommen beunruhigen sollte.

Undankbare Aufgabe

Die demokratische Strategin Donna Brazile meint, die Pandemie habe es Harris schwergemacht, ein schärferes Profil zu entwickeln. In dem 50 zu 50 geteilten Senat habe sie darüber hinaus die wichtige, aber undankbare Aufgabe, mit ihrer Stimme für eine Mehrheit zu sorgen. Sie tat das in ihrer kurzen Amtszeit mit insgesamt 26 Mal häufiger als jeder ihrer Vorgänger. Zuerst beim American-Rescue-Act genannten Covid-19-Hilfepaket, zuletzt bei dem großen Klima-, Gesundheits- und Steuergesetz.

Als wenig hilfreich für ihr Image erwiesen sich anhaltende Vorwürfe über ihren Umgang mit Personal, den Betroffene als "schwierig" beschreiben. Wie schon in der Vergangenheit im Justizministerium von Kalifornien, in ihrem Senatsbüro und im Wahlkampfteam ihres gescheiterten Anlaufs auf das Weiße Haus 2020 knirschte es lautstark unter ihren Mitarbeitern. Sie verlor bereits ihre Sprecherin, Stabschefin und wichtigste Strategin.

Bei Harris’ Versuch, Boden unter den Füßen zu bekommen, hilft ihr die vielleicht treueste Klientel der Demokraten, die schwarzen Frauen. Der Demoskop Cornell Belcher macht in dieser Gruppe eine Zustimmungsrate über 70 Prozent aus.

Ihre Unterstützer warnen davor, die Vizepräsidentin anzuzählen. Sie habe mit dem Abtreibungsurteil ein Thema gefunden, das ihr helfe, sich zu profilieren. (Thomas J. Spang aus Washington, 24.8.2022)