Wien ist eine Sportstadt, das ist klar. Doch großer Sport findet manchmal im Verborgenen statt: In einer Sporthalle im 21. Wiener Bezirk bereitet sich die österreichische Nationalmannschaft im Dodgeball auf die Weltmeisterschaft im kanadischen Edmonton vor. Vom 28. August bis zum 4. September findet sie statt. Es ist eines der letzten Trainings vor dem Abflug, zu dem Quietschen der Schuhe auf dem Hallenboden mischt sich Musik, die Stimmung ist gut. Eine Spaßveranstaltung ist es aber mitnichten, dafür sorgt allein schon Trainer Max Golda. Er selbst lernte die Sportart als junger Bub auf einem Austausch in den Vereinigten Staaten kennen. Mit einer Mischung aus Witz und der nötigen Strenge leitet er Übungen an, dirigiert, korrigiert.

Dodgeball ist taktisch komplex, dynamisch wird mit vielen Bällen gespielt – manchmal sollte man sich ducken.
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"Die ersten beiden Bälle sind cross, danach kannst du es dir aussuchen." Dodgeball wird weitläufig mit Völkerball gleichgesetzt, das ist aber falsch. Es mag beim ersten Hören nach Sportunterricht klingen, ist aber taktisch komplex, sehr dynamisch und erfordert ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. Während Völkerball mit einem Ball gespielt wird, sind es beim Dodgeball bis zu sechs. Darüber hinaus gibt es zwei Varianten des Spiels: In Europa ist "Cloth" verbreiteter, in Amerika "Foam". Der wesentliche Unterschied sind die Bälle; deren Material, Härte, Haptik.

Gespielt wird sowohl klassisch geschlechtergetrennt als auch mixed. Das ist eine der Besonderheiten des Sports: "Es ist ein Novum im Ballsport, dass es für beide Geschlechter gleichzeitig zu spielen ist. Viele, die Sport mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin machen wollen, kommen zu uns", sagt Golda. Er ist neben seiner Trainertätigkeit auch im Vorstand des österreichischen Dodgeballverbands aktiv, bekleidet in Personalunion die Ämter des Präsidenten des europäischen sowie des Vizepräsidenten des Weltverbands. "Ich bin alles", sagt der Wiener. Dass er nebenher auch noch seinen eigenen Verein, die Dodgeball Ninjas aus Wien, leitet, ist sowieso klar.

Dodgeball-Nation

Österreich, das kann man so sagen, ist eine Dodgeball-Nation. Das Nationalteam ist mit dem Cloth-Damenkader aktuell Europameister, im Mixed Vize, Weltmeister bei den Herren, Vize bei den Damen, die Liga läuft ebenso. Diese ist zwar sehr auf Wien zentriert, mittlerweile gibt es allerdings einen ersten Verein in Tirol. Aufgestockt wird mit Teams aus Tschechien und Ungarn.

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In der Halle Großfeldsiedlung fliegen derweil die Bälle. Hochsommerlich heiß ist es in der Halle, und heiß geht es auch auf dem Spielfeld her. Kommandos werden durcheinandergerufen, "play ball" oder wahlweise "zwei", "drei" oder "vier Bälle", heißt es. Nach ein paar Wurfstafetten steht ein Trainingsspiel auf dem Programm, denn "Spielen lernt man nur durch Spielen".

Die Spielerinnen und Spieler tragen dabei Leiberln unterschiedlichster Nationen, ein Tausch nach den Matches ist obligatorisch. Generell ist die Szene untereinander vertraut und sich – im besten Sinne des Sports – freundschaftlich gesinnt. Apropos Sportlichkeit: Fairplay ist ebenso ein Grundpfeiler des Dodgeballs. Bei eigenem Abschuss wird die Hand gehoben und das Feld verlassen. "Fairplay wird extrem geschätzt und ist in der Community etabliert. Streifschüsse sind meistens schwer zu erkennen. Bei Abschuss nicht hinauszugehen ist extrem verpönt, so erzieht sich die Community selbst", sagt Stefan Leitinger, der die Austrian Eagles in Kanada als Kapitän anführen wird.

Keine Förderung

Die dortige Weltmeisterschaft hat somit mehr den Charakter eines Familienausflugs. Nach Kanada zu fahren sei wie Urlaub mit guten Freundinnen und Freunden, dabei gebe es auch noch etwas zu gewinnen. Aber keine falsche Bescheidenheit: "Glücklicherweise sind wir relativ gut", heißt es. Geld gebe es dort jedoch nicht zu gewinnen, vielmehr stehen die Gemeinschaft und das Team im Vordergrund.

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Generell, das liebe Geld. Davon gibt es im Dodgeball nicht viel. Um es konkret auszudrücken: nichts. Die Kosten für die WM, sie summieren sich auf knapp 2000 Euro pro Person, werden von den Spielerinnen und Spielern selbst getragen. Das Jahresbudget des Nationalteams liegt bei 10.000 Euro. Dafür, dass herausragende Erfolge erzielt werden, sieht es hinsichtlich der Förderung mau aus. Bei Tausendsassa Golda sorgt das für Unverständnis.

"Es mangelt an Akzeptanz des etablierten Sports", moniert er. Es gebe ein paar private Gönner, die beispielsweise Leiberln spenden, die öffentliche Hand bliebe aber leer. Sein Ziel ist es, in naher Zukunft den Amateurstatus zu erreichen. So könne man zumindest kostendeckend agieren, ohne die Spielerinnen und Spieler zu belasten. Aber "in Österreich hast du es extrem schwer, als neue Sportart aus den Startlöchern zu kommen. In Wien hat man keine Chance auf Fördergelder, und Sport Austria stellt unrealistische Forderungen", fasst er die Lage zusammen.

Inklusion und Augenhöhe

Dabei gibt es auch neben dem sportlichen Abschneiden Gründe, den Sport zu unterstützen: Das soziale Bewusstsein der Dodgeballerinnen und Dodgeballer ist enorm ausgeprägt. "Die Inklusivität ist extrem, alle Spielerinnen und Spieler auf dem Feld sind eingebunden. Bei uns kann man nicht zu dick, zu dünn, zu klein oder zu langsam sein. Einen Vorteil kann man sich immer verschaffen", sagt Golda. Annika Jedliczka pflichtet ihm bei. Die Pädagogin ist Nachwuchstrainerin.

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"Kinder, die sonst nicht im klassischen Sinne sportlich sind, meterhoch springen oder schnell laufen, können bei uns trotzdem glänzen", sagt sie. Darüber hinaus hebt die Wienerin noch einmal den Stellenwert des gemischten Spiels hervor: "Nur wenn sich beide Geschlechter ihrer Rolle bewusst sind, funktioniert es. Man muss sich aufeinander einstellen."

Dieses Bewusstsein spürt man in der Halle. Es ist ein An-einem-Strang-Ziehen, ein großes Miteinander. In der gegenwärtigen Debatte um Geschlechtergerechtigkeit scheint Dodgeball eine Vorreiterrolle einzunehmen. Jedliczka sagt dazu: "Augenhöhe ist die Quintessenz. Wenn es nicht auf Augenhöhe funktioniert, sowohl sportlich als auch menschlich, ist in einer Mannschaft extrem viel falsch gelaufen." Von dem Vorwurf, durch das gezielte Abwerfen werde Mobbing bedingt, hält sie nichts. Es müsse Respekt vermittelt und hochgehalten werden, das sei der Grundstein.

Ausgewogener Kader

Trotz allem möchte man selbstverständlich auch sportliche Erfolge erzielen, schließlich sei man stolz, Österreich bei einer Weltmeisterschaft zu vertreten. Der Kader dafür ist so gut wie möglich aufeinander abgestimmt. Es gebe spezifische Auswahlkriterien, das Nominierungsgremium besteht aus fünf Personen. "Wir müssen die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Spielerinnen und Spieler genau analysieren. Wer kann wie gut werfen, welche Wurfgeschwindigkeiten werden erreicht, wie gut kann man sich bewegen, fangen oder blocken? Die Anforderungen sind hoch", sagt Bundestrainer Golda.

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Sportliche Qualität wird gefragt sein, damit die Austrian Eagles wieder im Kampf um die vorderen Plätze mitmischen können. In Kanada tritt Team Austria in fünf von sechs Disziplinen an, nur für den Damenwettbewerb im Foam ist kein Team gemeldet.

Bevor der Hallenwart das Licht ausknipst, die Spielerinnen und Spieler erst unter die Dusche und danach in die Wiener Nacht entschwinden, ruft Trainer Golda alle in einen Kreis zusammen. Was war gut, was schlecht, wie waren Block und Wurf aufeinander abgestimmt? Einige Details gebe es noch, an denen es zu feilen gilt. Viel Zeit ist nicht mehr, bis der Flieger nach Kanada abhebt. Es geht um Erfolg, mehr aber noch um Anerkennung. (Jens Wohlgemuth, 24.8.2022)