Mit einer Kampagne gegen Zuwanderung und umstrittenen Aussagen zur Abschiebung der zwölfjährigen Tina war Innenminister Karner in den vergangenen Tagen medial präsent.

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Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) ist aktuell in der Öffentlichkeitsoffensive. In zahlreichen Auftritten warnt er seit Wochen vor steigenden Asylzahlen. Vergangene Woche reiste er mit einer Handvoll Vertreterinnen und Vertretern von Medien – darunter auch DER STANDARD – nach Kopenhagen, um sich von den dänischen Regierungskollegen Tipps für eine restriktive Asyl- und Migrationspolitik zu holen. Am Dienstagvormittag präsentierte er eine neue Online-Kampagne, die potenzielle Asylwerbende schon in ihren Herkunftsstaaten mit drastischen Sujets davon abhalten soll, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Und am Dienstagabend absolvierte er einen Auftritt in der "ZiB 2", der in sozialen Medien für einige Aufregung sorgte. Aber wie sind Karners Aussagen zu den brisanten Themen von Asyl bis zum Fall Tina einzuordnen? Ein Faktencheck.

Frage: Das Innenministerium lanciert eine Kampagne, um potenzielle Asylwerberinnen und Asylwerber vom Aufbruch Richtung Europa abzuhalten. Gibt es Erfahrungswerte mit solchen Kampagnen?

Antwort: Ja. Bereits die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat 2016 eine ähnliche Kampagne mit Schwerpunkt in Afghanistan lanciert, die im Internet, Fernsehen, in Zeitungen und sogar auf Bussen mit Slogans wie "Österreichs Asylrecht nun noch strenger" dagegen warb, sich auf den Weg nach Österreich zu machen.

Frage: Weiß man etwas darüber, was die Kampagne bewirkt hat?

Antwort: Der Erfolg dürfte bescheiden gewesen sein: Abseits vom grundsätzlichen Auf und Ab bei den Fluchtbewegungen machte sich in der Folge der Kampagne keine kleinere Zahl an Menschen aus Afghanistan auf den Weg nach Europa und Österreich. Migrationsexpertinnen und Migrationsexperten bezweifeln grundsätzlich, dass derartige Kampagnen auf Migrationswillige eine abschreckende Wirkung haben, wenn bei ihnen entsprechende Fluchtgründe vorliegen.

Frage: Inwiefern ist die damalige Kampagne mit der heutigen vergleichbar?

Antwort: In Konzept und Ziel ähneln sich beide Kampagnen stark. Es gibt aber einige Unterschiede: Die Kosten waren 2016 mit knapp 14.000 Euro deutlich geringer als die der aktuellen Kampagne. Sie soll laut Innenministerium mit rund 260.000 Euro zu Buche schlagen. Der Fokus der Kampagne von 2016 lag zudem nicht auf Social Media – im Gegensatz zur aktuellen, die vor allem auf Facebook, Instagram und in den Google-Ads geschaltet werden soll.

Frage: Steigt die Zahl der Asylanträge aktuell tatsächlich so stark an?

Antwort: Ja. Mit gut 42.000 wurden heuer in Österreich bereits mehr Anträge gestellt als im gesamten Vorjahr. Hochgerechnet bis Ende des Jahres könnte die Zahl der Asylanträge in einer ähnlichen Größenordnung liegen wie im Jahr 2015, in dem es gut 88.000 Asylanträge gab. Zum Vergleich: Im ersten Halbjahr 2022 ist die Zahl der Anträge im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von knapp 10.900 auf mehr als 31.000 gestiegen. Das entspricht einem Anstieg von 186 Prozent binnen eines Jahres.

Frage: Aber halten sich alle Menschen, die in Österreich einen Asylantrag gestellt haben, auch tatsächlich in Österreich auf?

Antwort: Nein, bei weitem nicht. Einerseits sind viele Menschen, die hierzulande einen Antrag gestellt haben, wieder in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, wie der Innenminister am Dienstag in der "ZiB 2" ausgeführt hat. Vor allem aber sind viele Flüchtlinge nur auf der Durchreise, stellen also in Österreich einen Asylantrag, ziehen dann aber in andere EU-Länder weiter. Diese Menschen bekommen also weder tatsächlich ein Asylverfahren in Österreich, noch kommen sie in die österreichische Grundversorgung für Asylwerbende. Fachleute und NGOs schätzen, dass die Weiterziehenden die Mehrheit sind. So werden die meisten Asylverfahren kurz nach ihrer Eröffnung wieder eingestellt, weil die Ladung zur ersten Einvernahme nicht zugestellt werden kann. Daran lesen NGOs ab, dass die meisten der Einreisenden sehr rasch in andere europäische Länder weiterreisen.

Frage: Was sind die Gründe für die steigende Zahl an Asylanträgen?

Antwort: Grundsätzlich machen sich wieder mehr Menschen auf den Weg nach Europa. Auch die angespannte Lage in intensiven Phasen der Pandemie hat die Zahl der Flüchtenden und Migrationswilligen vorübergehend zurückgehen lassen. Dieser Effekt dürfte nun weitgehend verpufft sein. Hinzu kommt, dass auch einfach mehr Geflüchtete aufgegriffen werden als in früheren Jahren, weil die Kontrollen an den Grenzen stark hochgefahren wurden.

Frage: Stimmt es, dass Asylsuchende aus Tunesien, Indien oder Pakistan praktisch keine Chance auf einen positiven Asylbescheid haben?

Antwort: Die Anerkennungsrate ist nicht sehr hoch. Zwar haben im Vorjahr aus diesen drei Ländern immerhin 48 Menschen in Österreich Asyl oder humanitären Schutz erhalten. Die Anerkennungsrate lag aber nur bei 0,2 bis 2,5 Prozent. Die Chancen, aus diesen Staaten kommend Asyl zu erhalten, sind damit deutlich schlechter als etwa jene von Asylwerbenden aus dem Bürgerkriegsland Syrien oder aus dem von den radikalislamischen Taliban beherrschten Afghanistan..

Frage: Aus welchen Gründen könnte man etwa aus Tunesien oder Indien kommend Asyl in Österreich erhalten?

Antwort: Dafür kann es zahlreiche gute Gründe geben. Tunesien etwa machte nach dem Arabischen Frühling zwar einen Demokratisierungsprozess durch, kippte unter der Führung von Präsident Kais Saied zuletzt aber wieder in autoritärere Strukturen. Besonders für kritische Stimmen im Land ist Tunesien daher keineswegs der sichere "Urlaubsort", als den Karner es bezeichnete. Auch aus Indien berichtet etwa Amnesty International von repressiven Gesetzen zur Eindämmung kritischer Stimmen, von Einschüchterung von Journalistinnen und Anwälten, unrechtmäßiger Überwachung von NGOs und exzessiver Gewaltanwendung gegenüber ethnischen Minderheiten.

Frage: Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) hat vor kurzem bestätigt, dass die Abschiebung der zwölfjährigen Tina zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter im Jänner 2021 unverhältnismäßig war. Karner behauptete im "ZiB 2"-Interview, dass das Verfahren in die Länge gezogen worden ist. Stimmt das?

Antwort: Es stimmt, dass in der Vergangenheit Asylanträge der Mutter negativ beschieden wurden und die Mutter mit ihren Kindern aus Österreich ausgewiesen wurde. Die gesamte Vorgeschichte wurde aber bereits vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in seinem Erkenntnis aus dem Jahr 2022 aufgerollt und in die Entscheidung miteinbezogen. Dabei stellte das BVwG jedoch fest, dass das Kindeswohl gegenüber der Schwere des Fehlverhaltens überwiegt, weshalb die Abschiebung unverhältnismäßig war. In der Vergangenheit ergangene Rückkehrentscheidungen verlieren nämlich ihre Wirksamkeit, wenn sich die Beurteilungsgrundlagen im Hinblick auf das Recht auf Privat- und Familienleben geändert haben. Genau das ist in diesem Fall passiert.

Frage: Hätte die Behörde das Verfahren nicht selbst schneller führen können?

Antwort: Ja, sagt zumindest Tinas Anwalt Wilfried Embacher. Die Verantwortung für die lange Verfahrensdauer liege bei der Behörde, nicht bei der Mutter, sagte er dem STANDARD. Es habe in der Vergangenheit Versuche gegeben, Abschiebungen durchzuführen, die aber gescheitert sind, etwa weil zu diesem Zeitpunkt nicht alle Personen zu Hause waren. Wenn die Behörde auf derartige Probleme stößt, müsste jemand in der Behörde selbst das erkennen und schneller handeln. "Es ist eher unwahrscheinlich, dass jemand, der nicht freiwillig ausreist, zu Hause sitzt und darauf wartet, von der Behörde abgeholt zu werden", sagt Embacher.

Frage: Besagt das Erkenntnis des VwGH wirklich, dass sowohl eine Entscheidung für als auch gegen eine Abschiebung möglich war, wie Innenminister Karner unter Verweis auf Juristen im Ministerium sagt?

Antwort: Laut dem Asylexperten Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination ist es in solchen Fällen nicht die Aufgabe von Höchstgerichten wie dem VwGH, zu sagen, welche Entscheidung richtig oder falsch ist. Der VwGH entscheidet darüber, ob es im Verfahren des BVwG derartig krasse Mängel gab, dass die Einheit des Rechtsbestands als solche gefährdet ist. Genau davon konnte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) das Höchstgericht aber nicht überzeugen, der Gerichtshof entschied: Das Erkenntnis des BVwG ist vertretbar. Karner versuche, rechtliches Unwissen für seinen eigenen Standpunkt zu verwerten, sagt Gahleitner-Gertz.

Frage: Aber darf Karner die Entscheidung denn nicht kritisieren?

Antwort: Die letztinstanzliche Entscheidung sagt, was rechtsrichtig sei, wenn man das hinterfrage, brauche man auch kein Urteil mehr, sagt Anwalt Embacher. "Ich kann es inhaltlich kritisieren, aber ich kann nicht die Richtigkeit infrage stellen", so Embacher weiter. Und wenn der Minister das Urteil für falsch hält, müsse er Argumente vorbringen anstatt pauschal auf Experten in seinem Ministerium zu verweisen. Genauso wenig könne man sagen, zum damaligen Zeitpunkt habe man es nicht besser gewusst, in der Prüfung gehe es ja gerade um die Rechtmäßigkeit der Abschiebung zum damaligen Zeitpunkt, so Embacher.

Justizministerin Alma Zadić von den Grünen betonte am Mittwoch, offenbar bezugnehmend auf die Aussagen von Karner, die Wichtigkeit höchstgerichtlicher Entscheidungen.

Frage: Karner sagte, ob Tinas Mutter und Schwester, die noch in Georgien sind, zurückkehren können, ist die Entscheidung der Behörde und nicht seine. Stimmt das?

Antwort: Grundsätzlich, sagt Asylanwalt Embacher, sei es Sache der Behörde, die Entscheidung rückgängig zu machen. Nachdem die Abschiebung für rechtswidrig erklärt wurde, müsse der Zustand vor dieser rechtswidrigen Handlung wiederhergestellt werden. "Die normale Reaktion wäre es, zuzugeben, dass man einen Fehler gemacht hat, und sich um Wiedergutmachung zu bemühen", so Embacher.

Frage: Wenn die Abschiebung rechtswidrig war, warum kommt Tinas Familie dann nicht automatisch nach Österreich zurück?

Antwort: Automatismus gibt es in dieser Situation keinen, wie Asylexperte Gahleitner-Gertz erklärt. Zwar steht nach der Entscheidung des VwGH endgültig fest, dass auch die Abschiebungen von Tinas Mutter und Schwester rechtswidrig waren, das heißt aber noch nicht, dass die beiden Frauen automatisch zurück nach Österreich kommen können. Gahleitner-Gertz sieht hier eine Rechtsschutzlücke: "Im Prinzip gehört es automatisch verbunden: Die rechtswidrige Abschiebung müsste eine Verpflichtung der Behörde nach sich ziehen, die Personen wieder nach Österreich zu holen und das Verfahren zu überprüfen." (Martin Tschiderer, Levin Wotke, 24.8.2022)