Im August nahm Herr S. die tödlichen Schlucke zu sich: "Wenn es nicht mehr geht: Warum soll ich den Tod dann hinauszögern?"

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Peter S.* hatte seine Lieben noch einmal gedrückt, dann griff er zum Glas. Zügig schluckte er die seifig schmeckende Flüssigkeit hinunter, bald darauf kroch Müdigkeit in den Körper. Irgendwann habe ihr Mann "Gute Nacht" gesagt, erzählt seine Frau, "nach ein paar Minuten war er weg". Kein Zucken, kein Krampfen: "Es sah so aus, als wäre er einfach eingeschlafen."

Doch Herr S. wachte, wie vorgesehen, nicht mehr auf. Eingenommen hat er an jenem heißen Sommernachmittag das Herz und Atmung lahmlegende Mittel Natrium-Pentobarbital – in staatlich sanktionierter Dosis. Der 62-jährige Kärntner gehört zu den ersten Menschen in Österreich, die assistierten Suizid in der seit Jahresbeginn legalen Form verübt haben. Warum, hat S. dem STANDARD vor seinem Tod ausführlich erzählt.

Eine vertraute Diagnose

Angebahnt hatte sich der Wunsch zu sterben vor vier Jahren. Nach anfänglicher Entwarnung fanden Ärzte hinter dem Brustbein, an der Verzweigung der Luftröhre, einen Tumor – eine bitter vertraute Diagnose. Der Krebs sitze der Familie offenbar in den Genen, hatte S. gelernt: Die Mutter war bereits gestorben, als er 18 war, ihr folgten zwei Schwestern und ein Cousin.

Eines Sonntagmorgens vor acht Jahren, beim Kirchgang, brach die Tochter ohnmächtig zusammen. "Am Vorabend wohl zu viel gesoffen", zerfransten sich andere Messbesucher noch das Maul. Vier Monate später war die 31-Jährige Mutter eines dreijährigen Mädchens tot. Gehirntumor. Seine Lebensfreude fand Vater S. nie mehr ganz wieder.

So wie die Tochter wolle er seine letzten Wochen unter keinen Umständen verbringen müssen, hatte sich S. geschworen: "Den ganzen Tag nur am Rücken liegen und an die Decke starren – das ist für mich kein Leben mehr." Als die Regierung nach Vorgabe des Verfassungsgerichtshofs mit Jahresbeginn die Sterbehilfe liberalisieren musste, wollte er deshalb keine Zeit verlieren. Das tödliche Medikament sollte so rasch wie möglich daheim parat stehen – für den Fall, dass ihn der Krebs jäh von den Beinen holt.

"Totalversagen der Regierung"

S. nahm jenes Prozedere in Angriff, das die Koalition im Sterbeverfügungsgesetz vorschrieb: Wer assistierten Suizid nützen will, hat sich erst zwei Ärzte als Gutachter zu suchen, von denen einer eine palliativmedizinische Ausbildung besitzen muss. Diese haben nicht nur festzustellen, ob die betreffende Person entscheidungsfähig ist sowie an einer tödlichen oder dauerhaft beeinträchtigenden Krankheit leidet, sondern müssen auch über Alternativen aufklären. Sind die Voraussetzungen erfüllt, darf nach zwölfwöchiger Bedenkzeit bei einem Notar oder einer Patientenvertretung eine Sterbeverfügung errichtet werden. Diese berechtigt dazu, das todbringende Mittel in einer Apotheke zu kaufen.

Nicht nur einmal sei er bei der Suche nach validen Informationen und bereitwilligen Medizinern im Kreis geschickt worden, erzählte S. Listen der Ärztekammer hätten sich als untauglich herausgestellt, so mancher Ansprechpartner in den Institutionen habe seine Fragen wie eine heiße Kartoffel weitergereicht. Als "Totalversagen der Regierung" wertete er den Umstand, dass es keine zentrale Anlaufstelle gibt: "Wie geht das erst einem älteren Menschen, der sich im Internet nicht zurechtfindet?"

Als zermürbend empfand S. nicht nur die Herumtelefoniererei. Von den beiden Ärzten über eine auf Verfügung extra noch hinzugezogene Psychologin bis hin zum Apotheker: Nicht mehr hören wollte er die in Aufklärung verpackten Ratschläge, sich die Sache doch noch einmal zu überlegen. "Sie sind ja noch so gut beinand", habe ihm einer der Gutachter ins Gewissen geredet, berichtete er: "Doch wie ich mich fühle, weiß nur ich."

An den Tropf hängen

Wer länger mit S. gesprochen hat, der kann die Überredungsversuche gut verstehen. Sicher, die vielen Chemotherapien hatten das Wachstum des Krebses offenbar nicht stoppen können, die Ärzte machten wenig Hoffnung. Doch bei allen durchwachten Nächten und Hustenanfällen, die es ihm schwarz vor den Augen werden ließen, war der geistig ohnehin völlig fitte Pensionist bis zuletzt gut bei Fuß. Noch am Morgen des Todestags ging er mit dem Hund Gassi und drehte eine Waldrunde mit seiner Frau.

Ihr Mann habe halt nie gejammert, erzählt Frau S. Doch wenn ihn schlechte Tage ins Bett zwangen, sei ihr nicht entgangen, wie der ganze Körper wohl auch vor Schmerz zu zittern begonnen habe. Alle paar Tage hätten die behandelnden Mediziner zuletzt die Morphiumdosis nach oben geschraubt. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, bis eine permanente Infusion die Übersiedlung ins Spital nötig gemacht hätte.

Sie verstehe sehr gut, dass er sich das ersparen wollte, sagt sie: "Wir waren jede freie Minute unterwegs: auf dem Berg, mit dem Rad, im Auto auf ein Eis nach Udine. So jemanden kannst du nicht an den Tropf hängen. Es war eine Erlösung."

Kein Verständnis für die Ärzte

In einer warmen Nacht im August –die nächste zehrende Hitzewelle kündigte sich an – schoss Peter S. wieder der Schmerz ein. Da stand er auf und warf eine erste Dosis Paspertin ein – eine notwendige Vorkehrung, um für den entscheidenden Augenblick den Brechreiz zu unterdrücken. In der Früh eröffnete er seiner Frau: "Heute ist der Tag."

Am Vormittag wollte Herr S. noch einkaufen gehen, damit seine hinterbleibende Lebenspartnerin in der Zeit danach versorgt ist. Zu Mittag kam der Sohn mit der Schwiegertochter und den zwei kleinen Enkelkindern zur Verabschiedung. "Das brachte ihm noch einmal ein Lächeln auf die Lippen", sagt Frau S. "Dann hat er sich für die schönen gemeinsamen Jahre bedankt und das Mittel geholt."

An sich hatte er geplant, dass sie bei der Einnahme des tödlichen Salzes nicht dabei ist: Die Witwe sollte unter keinen Umständen in den Verdacht geraten, sich verbotenerweise aktiv am letzten Akt beteiligt zu haben. Doch schließlich legte sich Frau S. doch zum sterbenden Gatten ins Bett – was sich prompt zu rächen schien. Bald nach dem Tod kam die Kunde, dass ein Staatsanwalt Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung erhoben habe. Erst nachträglich habe die Kriminalpolizei Entwarnung gegeben, da sei ein übereifriger Justizbeamter am Werk gewesen, hieß es: "Alle waren mit der unbekannten Situation überfordert."

Herr S. aber blickte dem geplanten Tod, so schien es, gefasst entgegen. Dass Ärzte Sterbehilfe ablehnen, weil sie nur für die Rettung von Menschenleben da seien, habe er nie verstanden, sagt er: "Wenn es nicht mehr geht: Warum soll ich den Tod dann herauszögern?" (Gerald John, 2.9.2022)

*Name von der Redaktion geändert