Caritas-Kundin beim Einkauf in Wien-Floridsdorf: Für vier Euro gibt es ein 13 Kilo schweres Essenspaket. Zu nehmen ist, was zufällig da ist.
Foto: Regine Hendrich

Es ist ein seltener Schatz, der zwischen grauen Obststeigen herausleuchtet. "Himbeeren, wie herrlich", ruft Jasmin und öffnet bereitwillig die Einkaufstasche. 3,49 Euro kostet das Viertelkilo beim Hofer normalerweise – fast so viel, wie die 26-Jährige heute für den ganzen Einkauf ausgibt: "So etwas leiste ich mir im Supermarkt nie."

Was die begehrten roten Früchte flankiert, taugt weniger als Blickfang. Die Paradeiser sehen etwas batzig aus, die Maiskolben sind angetrocknet, die Salate welk: Lebensmittelketten müssten mit Beschwerden rechnen, doch Jasmin ist angetan. "Eine sehr gute Auswahl heute", sagt sie und bittet noch um zwei Extrabananen. Die Frau hinter der Obstkiste gewährt ihr nur eine feste gelbe, dazu gibt es eine braungefleckte: "Damit auch für die anderen schöne bleiben."

Jasmin hat ihre Ansprüche längst heruntergeschraubt. Woche für Woche versorgt sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter bei der Caritas Wien mit Lebensmitteln zum Schnäppchenpreis. Einkaufen darf hier, wer mit seinem Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle – 1371 Euro im Monat für Einzelpersonen – liegt. Für vier Euro gibt es ein grosso modo 13 Kilo schweres Paket. Haushalte von vier Köpfen aufwärts zahlen für das Doppelte sechs Euro.

In der Schlange stehen für günstige Ausschussware: Bereits eine Stunde vor Öffnung sind die Ersten da.
Foto: Regine Hendrich

Bereits eine Stunde vor Öffnung belagern an diesem Dienstagnachmittag die Ersten die Einfahrt zu einer ehemaligen Tiefgarage in Wien-Floridsdorf. Fast ausschließlich Frauen sind es, die hier ihre Trolleys in einer Schlange postieren – wie die vierfache Mutter Violeta, die nach dem Tod ihres Mannes zur Caritas-Klientin wurde. Kaum zu bezahlen sei die 100-Quadratmeter-Wohnung aus den Sozialleistungen und den 750 Euro, die sie als Ordinationsgehilfin verdiene. Nur weil der 19-jährige Sohn nun am Bau arbeite, komme sie trotz steigender Preise über die Runden – noch.

Angefachte Armut

Die 55-Jährige Polin ist eine der wenigen, die zum Reden bereit ist. Andere blicken zur Seite, die meisten verweisen auf fehlende Sprachkenntnisse. Am häufigsten kommt als Antwort retour: "Ukrajina."

Kriegsflüchtlinge seien ein Grund für einen Andrang, wie er ihn noch nie erlebt habe, sagt Projektleiter Georg Engel, den anderen könne sich jeder ohnehin ausmalen: Die Teuerung fache die Armut derart an, dass die ausgegebenen Lebensmittel von 13 Tonnen pro Woche zu Jahresbeginn zwischenzeitlich bis auf das Doppelte angewachsen seien.

Helfer sortieren Nachschub im Caritas-Lager: "Es ist ein hartumkämpfter Markt."
Foto: Regine Hendrich

Engel steht in einer Lagerhalle, welche die Betreiberin Caritas extra für die unter dem Label Le+O – Lebensmittel plus Orientierung – laufende Unternehmung gebaut hat. Manches, was hier zusammengetragen und an eine der 14 Ausgabestellen in Wien verteilt wird, stammt aus Sammelaktionen der Pfarren, anderes direkt von den Erzeugern, die etwa falsch etikettierte Produkte loswerden wollen. Das Gros steuern aber die Supermärkte bei.

Allmorgendlich klappern zwei Laster und vier Transporter die großen Handelsketten ab, um abgelaufene oder ramponierte Ware abzuholen. Doch längst deckt der Nachschub nicht mehr den Bedarf. Mittlerweile hat die Hilfsorganisation für die Essensausgabe einen Aufnahmestopp verhängt – und verweist Kunden in spe auf Alternativangebote.

Das liege auch an der Konkurrenz, sagt Engel: "Es ist ein hart umkämpfter Markt." Sozialmärkte sind ebenfalls auf Jagd nach Ware zweiter Wahl, dazu komme – wie er sagt – ideologisch getriebene Nachfrage. Nicht Armut, sondern ökologisch motivierter Ärger über Lebensmittelverschwendung lässt Angebote wie Too Good To Go wachsen. Über diese App können Händler oder Gastronomiebetriebe Überraschungspakete mit aussortiertem Essen anbieten.

Abgelaufenes in Aktion

Nicht alles, was im Caritas-Lager landet, ist Verbrauchern zumutbar. Freiwillige Helfer, Arbeitslose im Jobtraining, Freigänger aus Gefängnissen oder Praktikanten sortieren und prüfen jedes einzelne Stück – aus wenig sorgsamen Filialen kämen "Spenden" mitunter in einem Zustand, dass sie samt und sonders in den Müll wandern müssten.

Hauptsächlich Frauen laden ihre Trolleys bei der Caritas voll – die meisten davon haben Migrationshintergrund.
Foto: Regine Hendrich

Grundsätzlich entsorgt werden Fleisch und Fisch, über andere verderbliche Produkte klärt eine Schautafel auf: Aufstriche, Aufschnitte und Streichwurst dürfen das Mindesthaltbarkeitsdatum um drei Tage überschreiten, Milchprodukte um sieben, Eier um zehn. "Alles auf Basis einer wissenschaftlichen Studie", sagt Engel.

Unten, beim Verkauf in der schummrigen Garage, wartet zur Begrüßung ein Ladenhüter. Skeptisch beäugen viele die Mandelmilch, die hier im Überangebot lagert. Charmant preist ein Caritas-Mitarbeiter Konservennahrung an: "Darf es ein Erdäpfelgulasch sein, eine Leberknödelsuppe oder" – kurzes Stocken – "eine Dose Espárragos blancos?"

Eine bunte Mischung hat die aktuelle Lieferung beschert: Knoblauchchips, Powidl-Golatschen, Orangensaft und paketierte Falafel sind ebenso zu haben wie natürlich Grundnahrungsmittel. Die Klientinnen lassen sich Erdäpfel und Zwiebel in Taschen kippen, ehe es zum Brot – von der etwas zu knusprig geratenen Sorte – weitergeht.

Ob überbacken oder als Suppe: Man glaube gar nicht, was sich aus Brot alles zaubern lasse, sagt Stammkundin Jasmin, die sich als Gärtnerin vorstellt. Einen Job aber habe sie derzeit ebenso wenig wie Mutter Martina, die nach vier, fünf Jahren Arbeitslosigkeit bereits die Hoffnung aufgegeben hat. Wer nehme schon eine lediglich angelernte Bürokraft über 50?

Stammkundinnen bei der Essensausgabe: Hat man keine Arbeit, gilt es, die Ansprüche herunterzuschrauben.
Foto: Regine Hendrich

Hineingeritten habe sie die Trennung von ihrem Mann, erzählt Martina. Nur der Hilfe der eigenen Mutter sei es zu verdanken, dass sie als Notstandshilfebezieherin die für eine Familie dimensionierte 97-Quadratmeter-Wohnung noch zahlen könne. Was aber, wenn auch sie der unvermeidliche Preissprung bei Strom und Gas ereilt? "So weit denke ich nicht", sagt Martina: "Sonst kriege ich eine Panikattacke." (Gerald John, 25.8.2022)