Philip Larkin, hier 1974 als Bibliothekar in Hull.

Die hundertste Wiederkehr von Philip Larkins Geburtstag wurde von Großbritanniens Intelligenz dieser Tage keineswegs überschwänglich gefeiert, die Stimmung schien eher von andächtigem Ernst geprägt. "Larkin war ein trauriger, unfreundlicher Mann mit inakzeptablen Ansichten", begann Dichterkollegin Wendy Cope ihre Huldigung unlängst im "Daily Telegraph". Der Nachsatz hob die unangenehme Einleitung sofort wieder auf: "Hundert Jahre nach seiner Geburt kann mich seine Dichtung immer noch zu Tränen rühren."

Im Schatten überragender Gestalten wie Ted Hughes fristete der Dichter und Bibliothekar Philip Larkin (1922–1985) lange Zeit ein weniger beachtetes Dasein. Sein Ruhm gründet auf vier Gedichtbänden; der letzte, "High Windows" (1974), umfasst sparsame 38 Seiten. Und doch hat die jüngst getroffene Entscheidung, Larkin-Gedichte aus den britischen Studienplänen herauszunehmen, bei den Verehrern des Orpheus von der Ostküste ein Klima von Mangel und latenter Schwermut erzeugt.

Uni-Leselisten auf den Kopf gestellt

Während in Deutschland Bücher mit Indianerkitsch vorsorglich vom Markt genommen werden, stellen akademische Bildungseinrichtungen im Vereinigten Königreich gleich ihre Uni-Leselisten auf den Kopf. Von 45 für kanonisch befundenen Lyrikeinträgen mussten 15 weichen, unter ihnen solche von Größen wie Thomas Hardy, Seamus Heaney oder eben Larkin.

Platz gemacht haben sie "Stimmen der Diversität", "poets of colour", marginalisierten Dichterinnen, darunter Ilya Kaminsky, Louise Bennett-Coverly oder Caleb Femi. Die entsprechende Anthologie wurde von den Initiatoren "aufgefrischt". Tory-Politiker Nadhim Zahawi, mittlerweile Finanzminister, sprach von "Kulturvandalismus".

Ein Nachgeschmack bleibt. Muss man Autorinnen und Autoren als – notabene mutwillige – Überbringer "schlechter" Nachrichten von den Lehrplänen streichen? Tat Larkin dem Hoffnungsfrohsinn junger Britinnen und Briten etwa böswillig Abbruch, indem er ihnen empfahl, möglichst keine Kinder in die unfreundliche, düstere, moorbraune Welt jenseits des Ärmelkanals zu setzen? Sind, rundheraus gefragt, menschlich unerfreuliche Erscheinungen es nicht wert, dass man sich ihrer Leistungen erinnert?

König der schlechten Laune

Niemand sprach den Bewohnern von Nachkriegsengland nachdrücklicher aus der Seele als der leicht übergewichtige, schwerhörige, kahlköpfige Miesepeter aus Hull: ein Meister der Desillusionierung, der alltagsnah dichtete. Der dem Verseschmieden gerade einmal eineinhalb Stunden täglich einräumte: die knapp bemessene Zeit zwischen Büroschluss und Pub-Besuch. Larkins Credo: Entbehrung sei für ihn das, "was Narzissen für meinen Kollegen Wordsworth bedeuteten".

Seinen Ruf als rechtslastigen Griesgram festigten Briefe aus dem Nachlass, in ihnen finden sich rassistische Äußerungen. Gegenüber seiner Freundin Monica Jones benahm sich Larkin erwiesenermaßen als Ekel. Und doch haben sich unzählige Verse ins kollektive Gedächtnis der Inselbewohner eingebrannt. "Die Bäume setzen Blätter an / Wie etwas, das jemand beinahe sagt ...", oder: "Geschlechtsverkehr / Begann neunzehnhundertdreiundsechzig ...", aus solchen Merksätzen und Stanzen bastelte Larkin den Sound der Untröstlichkeit.

An den Modernisten der Vorgängergeneration nahm Larkin naserümpfend Anstoß. Besuche auf dem Kontinent lehnte er ab ("pissy continental travel"), bereits vierstündige Busreisen waren ihm ein Graus. Hull empfand er als "so frostig wie die elendigliche Schweiz". 1985 bewunderte der Sportsfreund und Jazzfan Larkin noch Boris Becker im Fernsehen: "Er erinnert mich an den jungen W. H. Auden!" Kurz danach war er an Krebs gestorben.

Philip Larkin, dieser Gottfried Benn des Fünf-Uhr-Tees, rührt mit seinen Litaneien selbst Aufgeklärte zu Tränen. Auf der Amazon-Liste "Bestsellers in 20th Century Poetry" ist er ganz vorn vertreten. Nur aus dem Lehrplan ist er verschwunden. (Ronald Pohl, 25.8.2022)