Beinahe jeden zweiten Tag wird ein neuer Fall publik: In der Schweiz werden Konzerte mit weißen Dreadlocks-Trägern abgesagt, in England Werke von Shakespeare oder Strindberg von den Leselisten gestrichen. Die jüngste Causa, der Auslieferungsstopp von Merchandising-Produkten eines Winnetou-Kinderfilms durch den deutschen Ravensburger Verlag, ist da nur ein weiterer Vorfall in der immer länger werdenden Liste von Verboten, Absagen oder Lieferstopps. Lange hoffte man, die ursprünglich von amerikanischen Universitäten ausgehende "Cancel-Culture" sei in erster Linie ein US-Phänomen. Mittlerweile sind die Verbotsdiskussionen aber in der Mitte der europäischen Gesellschaften angekommen und erzeugen jedes Mal von neuem einen gewaltigen Aufschrei.

Merchandising-Produkte des neuen Winnetou-Kinderfilms wurden durch den deutschen Ravensburger-Verlag gestoppt.
Foto: Constantin

Das geschieht durchaus zu Recht: In unserem Rechtsstaat sind die Grenzen, welche Meinungen man äußern oder welche Taten man setzen darf, klar gezogen. Sie können zwar hinterfragt werden, eigenmächtigen Verschiebungen muss eine liberale, demokratische Gesellschaft aber entschieden entgegentreten. Insofern sollte man die überschießenden Reaktionen diverser Konzertveranstalter, Universitäten oder eben des Ravensburger Verlags mit Sorge zur Kenntnis nehmen. Vorauseilendes Einknicken gegenüber einem anonymen Social-Media-Mob oder Protestierenden, deren Motive oft unklar sind, hat hierzulande schon beim Donaufestival einen schalen Beigeschmack gehabt.

Zensurmaßnahmen

Statt in eine Diskussion einzutreten, wischt man den Stein des Anstoßes durch Zensurmaßnahmen vom Tisch. Das schadet sowohl der Debatte als auch dem Erkenntnisgewinn: Nicht wenige der inkriminierten Songs, Texte oder Filme sind nämlich in der Tat hinterfragenswert. Oder um beim jüngsten Beispiel zu bleiben: Was, um Himmels willen, geht im Kopf von Filmemachern vor, die nach Jahrzehnten an Ideologiekritik an Karl May und dessen Werken ein Bild amerikanischer Ureinwohner reproduzieren, das nicht nur "romantisierend", sondern auch von einem kolonialistischen Diskurs durchtränkt ist? Dass es sich dabei um einen Kinderfilm handelt, wiegt besonders schwer. Gerade Kinder können nicht früh genug sensibilisiert werden, was die Darstellung anderer anbelangt, sowie dafür, welche Machtverhältnisse dieser zugrunde liegen.

Für einen Karl May war die indigene Kultur Nordamerikas eine, an der er sich scham- und kenntnislos bediente. Seine "kulturelle Aneignung", um dieses Reizwort aufzugreifen, bestand darin, sich als Vertreter einer Mehrheitskultur an den Bildern und Geschichten einer Minderheit zu vergreifen. Aneignung bedeutet in diesem Fall eine Enteignung, und es ist nur gut und richtig, darauf hinzuweisen. Wer daraus allerdings eine generelle Problematisierung kultureller Appropriation ableiten möchte, der befindet sich auf dem Holzweg. Unsere hybriden, von vielfältigem Austausch geprägten Kulturen sind das Ergebnis eines unablässigen Spiels mit Identitäten und verschiedenen kulturellen Konzepten.

Der Autor Jens Balzer schlägt in seinem jüngsten Buch eine "Ethik der Appropriation" vor, also eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter kultureller Aneignung. Der springende Punkt dabei ist jener, ob bestehende Machtverhältnisse ausgenutzt werden. Darauf wird man auch in Zukunft hinweisen müssen – allerdings ohne gleich Verbote oder Zensurmaßnahmen zu fordern. (Stephan Hilpold, 24.8.2022)