Sie weiß, dass ihr großes Ziel in Griffnähe ist – und sie zeigt es auch: "Ich denke, dass ich fähig bin, eine Regierung zu führen, die für Italien vernünftige Dinge beschließen wird und viel ändern kann", rief Giorgia Meloni den rund zweitausend Anhängern zu, die sich am Dienstag auf der Piazza Roma von Ancona versammelt hatten. Dabei spielte die 45-Jährige wieder einmal ihre Lieblingsrolle: eine gegen alle, die Fratelli d'Italia gegen den Rest der Welt. "Wir verraten die Bürgerinnen und Bürger nicht, wir haben keine Herren über uns, wir sind nicht erpressbar und lassen uns von niemandem kaufen!"

Giorgia Meloni führt ein starkes Rechts-Bündnis an.
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Nach eineinhalb Jahren unter Mario Draghi sei es um Italien schlecht bestellt, sagte die Parteichefin, die bald als erste Frau in den Palazzo Chigi, das italienische Regierungspalais, einziehen könnte.

Melonis selbstsichere Rede in Ancona war ihr erster offizieller Wahlkampfauftritt. Die Frontfrau der "Brüder Italiens" hat guten Grund für Optimismus. Ihre postfaschistische Partei führt in allen Umfragen mit rund 25 Prozent vor dem zweitplatzierten sozialdemokratischen Partito Democratico, der auf 20 bis 22 Prozent kommt.

Starke Wahlallianz

Diese Stimmen allein reichen zwar nicht für eine Regierungsmehrheit – aber Meloni kann im Unterschied zum Sozialdemokraten Enrico Letta auf ein schlagkräftiges Wahlbündnis zählen: Dem von ihr angeführten Rechtsblock gehören auch Matteo Salvinis rechtspopulistische Lega (zwölf bis 13 Prozent) sowie Silvio Berlusconis Forza Italia (sieben bis zehn Prozent) an.

Den Rest wird mit großer Wahrscheinlichkeit das Wahlgesetz erledigen: Es handelt sich um ein gemischtes System, bei dem zwei Drittel der Parlamentssitze nach dem Proporzprinzip verteilt und ein Drittel der Sitze in Einzelwahlkreisen, also nach Mehrheiten, vergeben werden.

Weil der Rechtsblock sehr viel stärker ist als die notorisch zerstrittene Linke und Mitte, wird die Rechte nach einhelliger Meinung der Demoskopen 80 bis 90 Prozent aller einzelnen Wahlkreise gewinnen. Damit wäre den Rechtsparteien die Mehrheit der Parlamentssitze auch dann sicher, sollten sie in den Proporzwahlkreisen zusammen nicht auf 50 Prozent kommen.

Noch ist es aber nicht so weit: Meloni und die anderen Parteichefs werden erst einmal einen Monat lang durch das Land touren. Die schneidige Favoritin Meloni will allen größeren Städten einen Besuch abstatten; dass sie in Ancona begann, ist kein Zufall: Es ist die Hauptstadt der Marken, die Region an der Adria ist eine einstige Hochburg der Linken, wird seit 2020 aber von Francesco Acquaroli, einem Parteifreund von Meloni, regiert. "Hier haben wir gewonnen, hier regieren wir. Und hier haben wir bewiesen, dass unsere Partei über ein Führungspersonal verfügt, das Lösungen anbieten und Antworten geben kann, die die Linke jahrzehntelang nicht geben konnte", so Meloni.

"Modellfall" Marken

Die Marken sind gleichzeitig eine Region, in der sich erahnen lässt, was auf ganz Italien zukommen könnte, sollten sich die Wahlprognosen bewahrheiten. Regionalpräsident Acquaroli hat hier kurz nach seinem Amtsantritt die Abgabe von Abtreibungspillen in den regionalen Beratungsstellen und Spitälern verboten; eine Abtreibung vorzunehmen ist in den Marken fast unmöglich geworden.

Die Regionalregierung weigerte sich auch, Schutzherrin für einen Gay-Pride-Umzug zu sein. Außerdem machen regionale Amtsträger immer wieder Schlagzeilen mit Sympathiebekundungen für Diktator Benito Mussolini oder den Faschismus. Auch Acquaroli selber: 2019 hatte er an einem Abendessen teilgenommen, das zum Gedenken an Mussolinis "Marsch auf Rom" und dessen Machtübernahme im Jahr 1922 durchgeführt wurde.

"Ich bin bereit, ich habe keine Angst", rief Giorgia in die Menge von Ancona. Die eigentliche Frage lautet vielmehr: Wer hat Angst vor Giorgia Meloni? Nach dem 25. September wird man es wissen. (Dominik Straub, 26.8.2022)