Ein Rausch der visuellen Effekte kündigt sich für "Herr der Ringe – Ringe der Macht" an. Die Mitglieder der Tolkien-Gesellschaften aller Welt werden das streng beobachten.

Foto: Amazon Prime Studios

Tobias M. Eckrich, Erster Vorsitzender der deutschen Tolkien-Gesellschaft.

Foto: Tolkien-Gesellschaft

Wenn es nach Amazon Prime geht, beginnt am 2. September ein neues Streamingzeitalter. 21* Jahre nach dem ersten „Herr der Ringe“-Film von Peter Jackson spielt der Onlinehändler die erste Folge von „Herr der Ringe – Ringe der Macht“ aus. Ein neues Zeitalter soll beginnen, weil die zehnteilige Serie budgetär neue Dimensionen setzt – eine Folge soll 60 Millionen US-Dollar gekostet haben. Und weil mit davor noch nie dagewesenem Aufwand eine Geschichte erzählt wird, die unter Fantasy-Fans ziemlich einhellig als die größte aller Zeiten gilt. Mittelerde als zehnteilige Serie, das hat es bisher noch nicht gegeben. Die Spannung unter den Streamingjunkies ist entsprechend groß.

Übertriebene Euphorie kommt bei Tobias M. Eckrich vorerst nicht auf: „Realistisch optimistisch“, so bezeichnet er die Erwartungshaltung der Mitglieder der deutschen Tolkien-Gesellschaft, deren erster Vorsitzender Eckrich ist. Er selbst freut sich: "Die letzten Trailer haben mich sehr positiv gestimmt." Die erste Folge wird er sich mit Freunden im Garten auf einer Leinwand ansehen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Foto: Amazon Prime Studios

STANDARD: Die Tolkien-Gesellschaften halten regelmäßig Stammtische ab. Wie wird denn dort "Ringe der Macht" diskutiert?

Eckrich: Ich kann nicht für alle Stammtische sprechen, aber den meisten Mitgliedern ist klar, dass es sich um eine Adaption handelt, in der immer wieder das Originalwerk abgewandelt werden muss – schon allein durch den Bruch des Mediums vom Buch zur Serie. Kritische Stimmen gab es schon bei den Filmen, und sterben wird es auch bei der Serie geben. Wir werden jedenfalls mit Argusaugen darauf schauen.

STANDARD: Welche Erwartungen haben Sie als Tolkien-Experte?

Eckrich: Nein. Dann kann ich relativ wenig enttäuscht werden. Wir dürfen nicht vergessen: Über das zweite Zeitalter ist nicht allzu bekannt. Man weiß, welche Personen überleben, man weiß, dass Númenor untergeht. Wie ist das optisch umgesetzt? Was ich bisher gesehen habe, hat mich schwer behalten. Es kommt sehr darauf an, wie die Dialoge und das Setting sind. Sieht das zu sehr nach visuellen Effekten aus, oder haben sie doch viel selbst gemacht?

STANDARD: Wo sehen Sie Möglichkeiten, der Geschichte etwas hinzuzufügen?

Eckrich: Überhaupt. Man kann die Geschichte im Prinzip mit einer gedachten Routenplanung gleichsetzen: Sie wollen von München über Frankfurt nach Berlin. Um dorthin zu kommen, can Sie den Zug nehmen, Sie can fliegen, Sie can mit dem Auto fahren und eventuell noch einen Schlenker nach Würzburg machen – das obliegt ganz Ihnen. Wichtig ist, dass Sie von München über Frankfurt nach Berlin kommen. Für „Ringe der Macht“ gibt es Fixpunkte, die Tolkien vorgegeben hat, jedoch dazwischen gibt es unglaublich viel Interpretationsspielraum.

STANDARD: Wie kommen Sie mit der Verkürzung zurecht, die das Medium Film automatisch im Vergleich zu den Büchern bedeutet und wohl auch die Serie betreffen könnte?

Eckrich: Was in der Serie gekürzt wird, ist die Zeitlinie. Ich bin sehr gespannt, wie Sie dieses Verhältnis zwischen Elben – unsterblich, allerdings relativ gebunden in Gedanken und Handeln – und Menschen – Freigeister, aber von sterblicher Natur – darstellen. In den Schriften Tolkiens gibt es Zeitspannen, die nicht beschrieben sind, und die kann Amazon jetzt in vollem Umfang ausleben, Plots entwickeln, die die Hauptlinie tangieren. Deshalb ist es die cleverste Lösung. Sie haben sich das zweite Zeitalter als Ort der Handlung gesichert und nicht einfach nur aus den Filmen Serien gemacht, die nur in Konkurrenz zu Peter Jackson stünden.

STANDARD: Im Zentrum steht der Untergang Númenors. Sehen Sie Parallelen zur Gegenwart?

Eckrich: Dass die Serie genau jetzt in der Klimakrise und in Kriegszeiten herauskommt, halte ich für puren Zufall. Númenor geht zwar unter, aber das bedeutet ja, dass das ultimativ Böse am Ende von denen vernichtet wird, die sich rächen wollen. Somit obsiegt das Gute gegenüber dem ultimativen Bösen, wenn auch unter großen Verlusten. Allerdings, und das mag ich an Tolkien so, es ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Auch bei "Herr der Ringe" sieht man das: Frodo schafft es, einen Ring zu vernichten, hat Freunde fürs Leben gefunden, kommt nach Hause und sieht ein besetztes Auenland. Das ist für mich persönlich unglaublich realitätsnah. Tolkien selbst hat sich mehrmals in Briefen dazu geäußert, dass er "Herr der Ringe" genau nicht als Anspielung auf die Weltgeschichte sieht. Nichtsdestotrotz steht "Der Herr der Ringe" inhaltlich und auch von den vermittelten Werten für Freundschaft, Zusammenhalt, Abenteuer – und das ist aktueller denn je.

STANDARD: Dann frage ich andersherum: Warum ist "Herr der Ringe" ausgerechnet zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder so populär? Welche soziokulturellen Strukturen bedingen den Erfolg?

Eckrich: Der Erfolg von "Herrn der Ringe" lag 2001 schlicht und ergreifend in der Bildgewalt der Filme. Peter Jackson betrat mit den Computereffekten komplettes Neuland. So etwas gab es im Kino davor nicht, und Jackson setzte seinerzeit Maßstäbe. Zudem gab es davor in den 1990ern einen großen Aufschwung von Pen-and-Paper-Rollenspielen wie "Dungeons & Dragons" und "Das Schwarze Auge". Da es Nerdkultur also schon gab, wurde "Herr der Ringe" mit den Filmen und den Büchern einfach einem sehr breiten Publikum zugänglich gemacht. Bei der Serie erwarte ich mir technisch nicht mehr allzu viele Neuheiten. Es gibt zwar LED-Screens, die kennen wir aber schon aus "The Mandalorian" bei Disney+. "Die Ringe der Macht" bedient im Fantasymarkt ein immens großes Publikum, das dadurch wieder mit Tolkien in Berührung kommt. Was uns als Gesellschaft natürlich freut. Wir sind dem Literarischen sehr verbunden, aber auch offen für jegliche Art der Adaption.

Amazon Prime Video UK

1997 gegründet, mehr als 1.200 Mitglieder

Tolkien-Gesellschaften gibt es weltweit, seit 2002 auch eine in Österreich. Die deutsche Vereinigung zählt mehr als 1.200 Mitglieder. Seit 13 Jahren leitet Eckrich den Verein. 25 bis 30 Stammtische finden in Deutschland regelmäßig statt, darüber hinaus gibt es Lesefeste und Festivals, etwa die Tolkien-Tage – die weltweit größte Veranstaltung ihrer Art mit rund 11.000 Besuchern an einem Wochenende.

Das Wissen von Tolkien vermitteln die Gesellschafter in Schulen und Universitäten, Eckrich produziert außerdem mehrere Podcasts.

Ein Fulltime-Job für den Software-Entwickler aus Weilheim in Oberbayern, der 45 Stunden pro Woche in seine große Leidenschaft investiert. "Und das alles unentgeltlich, ehrenamtlich und in seiner Freizeit, inklusive Urlaub." Eine Beziehung geht sich auch aus. Wie? "Weil sie genauso bekloppt ist wie ich", sagt Eckrich.

STANDARD: Was macht für Sie den Reiz von Fantasy aus?

Eckrich: Der Eskapismus. Ich bin ein Mensch, der eine unglaubliche bildliche Fantasie hat. Ich habe zwischen 14 und 16 auch "Dungeons & Dragons" gespielt. Da gab es einen Zauberer, der hieß Gandalf und war übermächtig. Und irgendwann hatte ich die Faxen dicke und fragte mich, was es mit diesem Typen auf sich hat. Woraufhin man mir den "Hobbit" gab. Den habe ich verschlungen, und das war es.

STANDARD: Aber das Reich der Fantasy ist ja riesig. Warum ist gerade "Herr der Ringe" das Nonplusultra?

Eckrich: Weil es perfekt unperfekt ist. Tolkien hat als Philologe seinerzeit Sprachen erfunden. Er ist der einzige Mensch, der eine Welt erschaffen hat, in der zuvor von ihm erfundene Sprachen ihren Platz finden. Es gibt so unglaublich viele Facetten, und alles wirkt so gedacht – es ist eine komplett abgeschlossene Welt. Das ist der Unterschied zu Harry Potter, den ich auch liebe, aber J. K. Rowling hat eine Parallelwelt erschaffen. Was Tolkien geschaffen hat, war ein komplettes World-Building – viel tiefergehender und viel umfangreicher, als es auch Terry Pratchett gemacht hat mit der Scheibenwelt, viel tiefer und größer, als es George R.R. Martin je hinbekommen hat. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: Tolkien hatte keine Helfer, wenn man von seinem Sohn absieht. Für George R.R. Martin haben die Fans nach Wikipedia ein Fan-Wiki aufgesetzt und dort alle Infos gesammelt. Martin erzählte ja auch, wenn er irgendein Detail aus seinen Büchern nicht mehr weiß, schlägt er bei Wikipedia nach. Tolkien hatte alle Informationen auf Zettel in seinem ganzen Haus verteilt. Er schrieb auf der Rückseite von Einkaufszetteln, kritzelte auf Tageszeitungen, nahm jedes Stück Papier, das er fand und hatte ansonsten alles in seinem Kopf. Auch deshalb ist "Herr der Ringe" das Größte, Großartigste, was ich an Fantasyliteratur je gefunden habe. Ich denke, es ist ein wunderbarer Spiegel für uns – allerdings ohne diese ganzen neumodischen Sachen, sondern mit einem romantischen Mittelalter.

Milwaukee und Mittelerde

Und dann muss er schon wieder weiter. Ein Trip nach Milwaukee steht an. Forschungsreise sozusagen ins Reich der Hobbits und Herr der Ringe, wo Archivmaterial liegt. Die dort stattfindende Ausstellung wird Eckrich digital komplett nach Deutschland bringen. Mittelerde überall. (Doris Priesching, 29.8.2022)