Ausbruch aus unter drückenden Mustern: Foto aus dem Buch "Pierre Bourdieu: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung" aus der Edition Camera Austria.
www.camera-austria.at

Foto: Camera Austria Graz

Sabine Scholl: In der Diskussion um Klasse und Herkunft wird häufig mit räumlichen Metaphern gearbeitet, um soziale Differenzen deutlich zu machen.

Eva Schörkhuber: Wenn wir über Klassen und über soziale Verortungen sprechen, ist das Gegensatzpaar Zentrum und Peripherie wichtig, auch im Hinblick auf die Infrastrukturen, also tatsächlich im Plural. Ein Beispiel dafür ist Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen. Im Text geht es darum, dass eine Frau in ihren Vierzigern aus der Mietwohnung in einem Berliner Innenstadtbezirk geworfen wird. Der Mietvertrag wird von einem Freund gekündigt, der sich aufgrund einer ihrer Publikationen, in der es um eine Baugruppe geht, angegriffen fühlt. Das Horrorszenario der Protagonistin Resi ist es, an die Peripherie Berlins ziehen zu müssen, weil sie sich in der vertrauten Gegend die Miete nicht leisten kann.

Sabine Scholl.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Scholl: Letzteres hat auch mit dem Zugang zu guter Bildung für die Kinder zu tun. Die Adresse der Schule, die besucht wird, spielt eine Rolle, jetzt noch unabhängig vom Schultyp. Kinder aus prekären Verhältnissen müssen Bewegungen vollziehen, um an Bildung zu kommen. Meist befindet sich die bessere Schule in einem eher bürgerlichen Terrain. Aber werden die Kinder von den Lehrpersonen dazu ermuntert, obwohl ihre Eltern nicht zum Sprechtag kommen, oder bekommen sie eine Gymnasialempfehlung, wenn sie ausländisch klingende Namen tragen? Muss das Kind sich aus den schlechteren Bezirken in eine unvertraute Umgebung begeben? Muss es gewisse Verhaltensformen lernen und mit Lehrern zurechtkommen, die andere Verhaltensformen erwarten als die, die dem Kind von Haus aus vertraut sind? Damit beginnt die Klassenreise. Dann kann es passieren, dass sich durch kleine Bemerkungen große Unterschiede offenbaren. Der von unten Kommende verrät sich damit. Und es öffnet sich in dem Moment ein Abgrund für diese Person, die das wahrnimmt, und zwar bereits für das Schulkind.

Schörkhuber: Das Kind begreift, wir sind aufgrund unserer Herkunft diejenigen, die minderwertig sind.

Scholl: Das wird den Kindern auch angetragen, sie sollen sich schlecht fühlen. Es gibt immer wieder Lehrende, die Kinder als nicht zugehörig ansehen und dann keine Gymnasialempfehlung aussprechen. Das ist ausführlich in Melisa Erkurts Generation Haram zu lesen. Sie erzählt von Ausgrenzungen aufgrund eines ausländischen Namens, das reicht oft schon, um die Leistung von Kindern schlechter zu bewerten. Schafft man es aber trotzdem Schritt für Schritt, hat man sich von seiner Herkunft so weit entfernt, dass es kein Zurück mehr gibt. In vielen Texten findet sich das Narrativ der Rückkehr, das schon im Titel des Buches von Didier Eribon Rückkehr nach Reims enthalten ist. Derjenige, der inzwischen anders sozialisiert ist und in einem anderen Kontext lebt, wird zurückkatapultiert und betrachtet die früher vertrauten Menschen seiner Herkunft und deren Umgebung mit den Augen des Aufsteigers. Und an diesem Punkt beginnt die Analyse dieses Vorgangs.

Eva Schörkhuber.
Foto: Jorghi Poll / Edition Atelier

Schörkhuber: Auch literaturwissenschaftlich ist das interessant, denn das Narrativ der Rückkehr steht im Gegensatz zum klassischen Bildungsroman, wo der Held sich freiwillig auf den Weg macht und seinen Platz in der Gesellschaft findet, die in den allermeisten Fällen eine bürgerliche ist. Hierbei handelt es sich eher um eine Ankunft. In der Autosoziobiografie aber geht es um eine doppelte Entfremdung, die auch als solche reflektiert wird. Das ist kein Ankommen im Sinne von "Ich habe mir einen Platz gefunden", sondern ist eher ein "Ich habe meinen Platz weder da noch dort gefunden". In der Rückkehr, so wie sie etwa auch Annie Ernaux beschreibt, wird deutlich, wie weit man sich entfernt hat, indem man nun die eigene Familie wie von außen wahrnimmt. Das hat eine für beide Seiten gewaltvolle Dimension. Einerseits wird die eigene Familie analysierbar durch die Außenwahrnehmung, andererseits sieht man auch seine eigene Geschichte von außen.

Scholl: Diese Analyse ist immer mit Verlust verbunden. Andererseits kann sie nur so verfahren, weil sie bereits aus der Position eines besseren gesellschaftlichen Status spricht. Jeder dieser Versuche muss zwiespältig bleiben. Man kippt immer von dem einen ins andere. Ernaux formuliert das sehr schön: "Es ist ein schmaler Grat zwischen der Rehabilitierung einer als unterlegen geltenden Lebensweise und dem Anprangern der Fremdbestimmung, die mit ihr einhergeht." Denn letztlich ist dieser so genauen Beobachtung die Erkenntnis inhärent, dass die Zurückgelassenen nicht anders können. Dass sie gefangen sind in den sie unterdrückenden Mustern, und auch das ist schmerzhaft, die Eltern so zu sehen oder die Brüder, die Cousinen usf.

Schörkhuber: Die Unterschiede werden damit bestätigt.

Scholl: Zu den Codierungen gehört auch der Umgang mit dem Körper, da gibt es genauso sprechende Unterschiede, die die soziale Klasse markieren.

Schörkhuber: Annie Ernaux beschreibt in Die Jahre eine Art Benimmkodex, aber umgekehrt. Die Menschen ihrer Umgebung verhalten sich so, wie es sich nicht gehört. Ihre Körper sind nicht diszipliniert genug. Es gibt Benimmbücher, die in bester Absicht geschrieben werden, um Menschen zu ermöglichen, sich in der besseren Gesellschaft zurechtzufinden. Die Frage ist jedoch, welche Normen werden von wem gesetzt oder welche werden von wem als wünschenswert wahrgenommen? Wie gut gelingt mir die Anpassung? Wie weit kann ich mich von dem sozialen Feld, auf dem ich durch Zufall der Geburt gelandet bin, im Laufe meines Lebens entfernen und mich verschiedenen sozialen Feldern, in denen ich mich bewege, anpassen? Also dieses Missverhältnis zwischen dem, was ich gelernt habe und von Haus mitbekommen habe, und dem, was ich verkörpern möchte, vielleicht aber auch zu verkörpern habe, weil es der Beruf verlangt. Das betrifft auch die Frage der sozialen Mobilität.

Scholl: Und beinhaltet nicht nur die Umgangsformen, sondern auch den Geschmack. Also, was findest du schön? Wie richtest du deine Wohnung ein, wie kleidest du dich, und natürlich auch die Esskultur, Speisen, die du kennen musst. Es betrifft die Regeln, wie man bestimmte Speisen zu sich nimmt. Darf man in einen Apfel bei Tisch einfach so beißen? Pierre Bourdieu hat das am Beispiel Frankreichs untersucht. Das Besondere seiner Studie Die feinen Unterschiede ist, dass sie auf soziologischen Untersuchungen beruht. Er listet die Ergebnisse der ausführlichen Befragungen dann nach verschiedenen Klassen, nach dem Einkommen etc. auf. Was wer schön findet und wie jemand seine Wohnung einrichtet, wie wichtig das ist. Das ist natürlich speziell französisch und noch dazu zeitgebunden, inzwischen hat sich einiges verändert, gerade die Esskultur, auf die man so stolz ist, hat sich industrialisiert. Aber man kann Bourdieus Erkenntnisse schon auf Verhältnisse in anderen Kulturen übertragen.

Schörkhuber: In den literarischen Darstellungen funktioniert das sehr gut, diese Beobachtungen, wie fein die Unterschiede bemessen sind. Man kann sich zwar teuerste Kleidung kaufen, entsprechende Schuhe tragen, aber es sind Kleinigkeiten, die die Herkunft preisgeben. Die Art und Weise etwa, wie wir nach einem Glas greifen. Meine Wohnung kann mit den exklusivsten Möbelstücken eingerichtet sein, aber es sind dann manche Dinge, die verraten, woher man wirklich kommt, zum Beispiel, wie die Bilder gehängt sind. Damit lässt sich literarisch sehr gut arbeiten. Bourdieus fundamentale Studie zeigt, dass alles Geld der Welt, jeglicher ökonomische Status diese habituellen Dinge nicht wettmachen kann und wie fein die sozialen Nasen sind.

Scholl: Und dann ist da noch die Sprache. Wie man sich ausdrückt. Eribon schreibt über seine sprachlichen Register, die er je nach Kontext einsetzt. Dahinter lauert die Angst aufzufliegen. Es rutscht dir ein Wort aus, du hast eine dialektale Färbung, wenn du aufgeregt bist. So wie du eben auch das Messer anfasst oder dir zweimal vom Käse nimmst, und alle sehen, dass du die Regeln nicht beherrscht.

Schörkhuber: Die Dialekte versucht man ebenfalls abzulegen, damit man nicht mehr als aus der Provinz kommend erkannt wird.

Scholl: Man möchte nicht greifbar sein, nicht angesprochen werden auf die Herkunft. Auch aus Scham.

Schörkhuber: Was noch zu erwähnen ist, wäre die Frage nach der Zensur und der Selbstzensur. Wer darf worüber schreiben? Wer hat das Recht, Ich zu sagen, wer muss Ich sagen, weil sonst diese Stimme nicht gehört wird? Man sollte auch einmal überlegen: Was heißt eigentlich Personal haben in der Literatur? Das ist etwas Selbstverständliches in bürgerlichen Romanen und Romanen von Aristokraten. Bestenfalls schreibt man eben dann über das Dienstmädchen, mit dem der Protagonist ein Verhältnis hat, wenn sie überhaupt beschrieben wird. Meist wird nicht über ihre Lebenswelt berichtet, sondern sie werden vor allem in diesen bürgerlichen Haushalt hineingepflanzt, wo sie vor allem funktionieren sollen. Aber sie haben keine Geschichte, und oft kommen sie gar nicht einmal vor.

Scholl: Das weiß man dann höchstens aus anderen Quellen, dass die Bediensteten anwesend waren und für denjenigen gesorgt haben, der dann nicht oder kaum über sie schreibt. Sie sind meist nicht einmal in den Tagebüchern der Dienstherren vorhanden. Zum Beispiel über das Dienstmädchen Celeste von Marcel Proust habe ich mit dem Film von Percy Adlon erfahren, danach bin ich erst auf ihre Aufzeichnungen gestoßen. Nur deshalb ist bekannt, dass diese Frau als Helfende und Unterstützende hinter dem genialen Autor stand. _

Schörkhuber: Es gibt ja auch den Mythos von der klassenlosen Gesellschaft, der das Gefühl, vermitteln soll, es gebe keine sozialen Unterschiede. Das ist in Anke Stellings Roman wunderbar beschrieben. Es wird so getan, als gäbe es keine sozialen Unterschiede mehr. Die Protagonistin ist in einer kleinbürgerlichen Familie aufgewachsen, ihre Schulfreunde und Freundinnen kamen aus reichen Familien mit Ahnentafel in der Glasvitrine. _ Da gab es manifeste Unterschiede, die nivelliert und verschwiegen worden sind. Die Erzählerin Resi verfällt in eine sehr heftige Tirade, nachdem sie begonnen hat, langsam die ganze Schimäre von dieser scheinbar klassenlosen Gesellschaft für sich aufzudecken. Mich hat beim Lesen anfangs der zornige Ton irritiert, bis ich draufgekommen bin, warum. Denn sie adressiert ihren Zorn. Erst an diese Freunde und Freundinnen, die Heuchler und Heuchlerinnen, aber vor allem an ihre Eltern und an ihre Mutter. Sie fühlt sich von ihrer eigenen Herkunft betrogen, weil die Eltern ihr nicht die Wahrheit gesagt haben. Und sie adressiert dieses Buch an ihre älteste Tochter. Die soll diese Lüge nicht glauben, sondern von Anfang an wissen, wie gespielt wird. Resi erinnert sich an Kleinigkeiten, die ihr damals nicht aufgefallen sind oder die sie sich selbst nicht erlaubt hat zu bemerken, zum Beispiel, das Skifahren. Sie erinnert sich, wie ihre Schulfreunde und -freundinnen in die Skihütte in die Schweiz gefahren sind, die natürlich einem Elternpaar gehörte. Resi ist die Einzige, die weder Ski hat noch Ski fahren kann. Und das setzt sich fort, während des Studiums und dann im Erwachsenenleben. Es kommt der Moment, da die anderen sagen, na ja, wir wollen uns aber amüsieren. Wir können jetzt nichts dafür, dass du nicht Ski fahren kannst, dass du keine Ski besitzt. Dein Problem ist nicht unser Problem. Das zieht sich im Buch dann weiter, bis sie im Alter um die 40 eine Baugruppe gründen, wo die vermögenden Freunde und Freundinnen, die natürlich geerbt haben, ein gemeinschaftliches Haus bauen, wozu man Ei genkapital benötigt, das Resi nicht aufbringen kann. _

Scholl: Es gibt zwar Untersuchungen, die zeigen, wie der Spalt zwischen sehr armen und sehr reichen Menschen sich vergrößert. Aber daraus folgen keine politischen Konsequenzen.

Schörkhuber: In Österreich gehören ja auch angeblich alle zur Mittelschicht. Das hat, glaube ich, etwas mit der Kreisky-Ära in den Siebzigerjahren zu tun, aber es ist eben auch die Folie für diese Art von hegemonialer Universalisierung, bei der bestimmte Standpunkte, bestimmte Praktiken oder bestimmte habituelle Ausdrucksformen als normal gesetzt werden. Die Frage, warum bestimmte und auch sehr spezifische Schablonen als normal gelten, wird gar nicht mehr gestellt. _

Scholl: Du hast die Möglichkeit einer Transclasse-Communio im Vorfeld formuliert: "Wäre es nicht auch an der Zeit, dass die Inhaber:innen bürgerlicher Selbstverständlichkeiten sich der Geschichte ihrer Klasse und deren Spezifika widmen, indem sie zum Beispiel die Illusion des ‚bürgerlichen Universalismus‘ als solche ausweisen, auch in ihrer Genealogie?" Das wäre eine hilfreiche Bewegung, wenn das autosoziobiografische Erzählen tatsächlich eine gewisse gesellschaftliche Schicht zum Nachdenken bringen könnte und dazu, sich selbst und ihre Privilegien zu hinterfragen. Das gilt genauso für Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Damit hätten wir unsere Wünsche an die Welt deponiert. (Sabine Scholl, Eva Schörkhuber, ALBUM, 28.8.2022)