Nach dem Studium der Physik wusste der 20-jährige Richard Henderson nicht, was er als Nächstes tun sollte. "Sie sollten promovieren", hörte er im Career-Office seiner Alma Mater in Edinburgh. Er las sich in Astrophysik ein, beschäftigte sich mit Fusionsforschung und recherchierte im Gebiet der Biophysik. Die meisten Bereiche erfordern große Teams, "man kann nicht alleine Teilchenkollisionen durchführen", schildert er seine damaligen Überlegungen heute. "Biophysik kann man alleine betreiben, Zellen arbeiten von selbst."

Nach einem Besuch am Cambridge Medical Research Council (MRC) entschied er sich, dort sein Doktorat zu absolvieren. Er erfuhr von einem Strukturbiologieprojekt und begann, an der dritten bekannten Proteinstruktur zu arbeiten. Mit der Verbesserung der Forschungsmethoden wuchs das Feld enorm. Vieles davon ist dem Eifer Hendersons zu verdanken: War eine Methode nicht leistungsfähig genug, um eine wichtige Struktur herauszufinden, machte er sich an die Entwicklung neuer Methoden. Indem er schwächere Elektronenstrahlen mit mathematischen Modellen kombinierte, gelang es ihm, dreidimensionale Bilder von Molekülen zu erstellen.

Von der Pionierarbeit des britischen Strukturbiologen Richard Henderson im Bereich der Elektronenmikroskopie profitiert die Wissenschaft bis heute.
Foto: APA/AFP/JONATHAN NACKSTRAND

Für die "Entwicklung der Kryo-Elektronenmikroskopie (Kryo-EM) zur hochauflösenden Strukturbestimmung von Biomolekülen in Lösungen" erhielt Henderson schließlich den Nobelpreis, heißt es in der Begründung des Komitees. Bei dieser Methode müssen die zu untersuchenden Proben weniger aufwendig aufbereitet werden, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit, dass Verfälschungen oder Fehler auftreten, sinkt. Im heurigen Frühjahr enthüllte Henderson in Wien das zweite Kryo-Elektronenmikroskop Österreichs am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP).

STANDARD: Ihr Vater war Bäcker, und wie Sie wissen, sind wir in Österreich recht stolz auf unsere Backwaren. Haben Sie welche probiert?

Henderson: Ich habe bei einem früheren Wienbesuch ein Buch über die Kaffeehauskultur geschenkt bekommen, in dem auch ein Apfelstrudelrezept war. Zu Weihnachten habe ich mit meiner Familie beschlossen, einen zu backen, genau nach dem Rezept.

STANDARD: Waren Sie erfolgreich?

Henderson: Nun, wir haben einmal Stunden damit verbracht, alle Zutaten einzukaufen. Den Teig zu machen hat ebenfalls Stunden um Stunden gedauert, und dann gab es noch eine sehr aufwendige Soße dazu. Letztlich haben wir einen riesigen, wirklich gigantischen Strudel gehabt, an dem wir drei Tage gegessen haben. Und er war wirklich köstlich.

Video-Interview mit Richard Henderson anlässlich der Zuerkennung des Chemie-Nobelpreises. Video: Nobel-Stiftung
Nobel Prize

STANDARD: Haben Sie angesichts der enormen Fortschritte in Ihrem Forschungsfeld Ihre persönliche Ziellinie überschritten?

Henderson: Es gibt noch viel zu tun und viele Kilometer auf dem Feld. Also werde ich weitermachen und verschiedene Wege einschlagen, um Dinge zu verbessern. Derzeit versuchen wir, die Kosten der Methoden zu senken, damit niemand, der forschen will, Zugang zu großen Forschungsgeldern braucht.

STANDARD: Wie kann das funktionieren?

Henderson: Ich bin von der Röntgenkristallografie, die weltweit die Hauptmethode ist, zur Elektronenbeugung übergegangen. Ich bin zur Elektronenbeugung und zur Elektronenmikroskopie übergegangen. Die war vor 20, 30 Jahren nicht sehr ausgereift. Damals habe ich analysiert, warum was nicht funktioniert, und Verbesserungen durchgeführt. Die Herstellerfirmen fügten ständig neue Funktionen hinzu, wodurch die Mikroskope immer komplizierter und teurer wurden.

STANDARD: Was zahlt man heute dafür?

Henderson: Der Listenpreis liegt bei zehn Millionen Euro für ein Mikroskop. In diesem Labor hier haben wir drei, in Großbritannien sind es wahrscheinlich 20. In Österreich gibt es zwei, eines am ISTA und eines am IMP. Wir haben uns also die Frage nach all den Verbesserungen gestellt, die wir vorgenommen haben, um die Methode wirklich leistungsfähig zu machen. Vielleicht waren einige nicht notwendig, und das ist der Schlüssel. Man braucht keine 300 Kilowatt (kW), man kann auch mit 100 kW arbeiten.

STANDARD: Die Ergebnisse bleiben dabei dieselben?

Henderson: Sie könnten sich sogar verbessern. Eine Sache, die wir bisher nicht bewertet und untersucht haben: Nimmt man ein Bild im Elektronenmikroskop auf, zerstört der Elektronenstrahl die Moleküle, von denen man Bilder macht. Wir haben angenommen, dass dieser Strahlenschaden bei 100 kW und 300 kW ungefähr gleich groß ist. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass der Informationsgehalt des Bildes bei gleichem Schaden bei 100 kW um 30 Prozent höher ist als bei 300 kW. Die Technik wird nicht nur billiger, sondern auch etwas besser sein. Wir wollen die Kosten für preiswerte Mikroskope um das Zehnfache senken und kommen damit gut voran.

Fortschritt durch Kryo-EM: Wo früher Kleckse zu sehen waren, zeigt sich heute die exakte Struktur von Proteinen.
Illustration: AP / MRC Laboratory of Molecular Biology

STANDARD: Es könnte enorm viel Wissen gewonnen werden, wenn sich nicht nur die reichsten Länder oder Institutionen die Technik leisten können. Würde das auch Ihrem Institut helfen?

Henderson: Unser Problem in diesem Labor ist, dass wir viele Mikroskope haben, aber wegen der großen Nachfrage immer noch etwa sechs Wochen warten müssen, um sie für einen Tag zu bekommen. Mit preiswerteren Geräten könnten wir sie jeden Tag benutzen. Wir könnten viel schneller Fortschritte machen, die Produktivität wäre viel höher.

STANDARD: Haben Sie auch wegen dieser Aussicht vom goldenen Zeitalter der Kryo-Elektronenmikroskopie gesprochen?

Henderson: Ich denke, wir werden bald in das Platinzeitalter eintreten. Im Moment verdoppelt sich die Zahl der Strukturen, die mithilfe der Kryo-EM bestimmt werden, jedes Jahr, und das seit zehn Jahren. Das ist die Zukunft. Unser Labor war immer gut finanziert und setzt immer stärker auf Kryo-EM. Vermutlich wird die Wissenschaftswelt die gleichen Entscheidungen treffen wie wir.

STANDARD: Welche Erkenntnisse erwarten Sie durch solch einen Umstieg?

Henderson: In ein paar Jahren sollten wir die Struktur von allem in der Biologie kennen. Dann wird man in der Lage sein, Medikamente besser und schneller zu entwickeln, Krankheiten, Mutationsprobleme und Gendefekte besser zu analysieren und darauf zu reagieren.

STANDARD: Haben Sie einen Ratschlag für junge Forschende, die anstreben, ebenfalls mit einem Nobelpreis bedacht zu werden?

Henderson: Nun, das Nobelkomitee vergibt die Preise nicht nur für ein oder zwei sehr clevere Dinge, die auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt sind. Man mag eine große Wirkung. Normalerweise sieht man also eine Entwicklung und wartet dann ab, ob sie auch für Menschen außerhalb des unmittelbaren Bereichs von Nutzen ist. Es geht um völlig neue Innovationen, die oft gegen die etablierten, akzeptierten Wahrheiten verstoßen.

STANDARD: Muss man also versuchen, gegen den Strom zu schwimmen?

Henderson: Ja, aber das Problem ist, dass auf jeden, der gegen den Strom schwimmt und eine Entdeckung macht, wahrscheinlich 100 Leute kommen, die gegen den Strom schwimmen und verschwinden. Es gibt letztlich kein Rezept, diesen Preis zu gewinnen.

STANDARD: Ihr Professor Peter Higgs hörte oft, dass er den Nobelpreis gewinnen würde. Hat man Ihnen diese Auszeichnung auch prophezeit?

Henderson: Als die Methode anfing, wirklich produktiv zu sein, und jeder sie anwenden wollte, fragten die Studierenden: "Glaubst du, dass du dafür einen Nobelpreis bekommen wirst?" Das war fünf Jahre vor der Nominierung. Als die Entscheidung tatsächlich feststand, war ich in einer Sitzung in der Universität. Wissen Sie, man wird einfach angerufen, es gibt keinerlei Vorwarnung. (Marlene Erhart, 28.8.2022)