Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hofft auf Geschlossenheit in den Reihen der Europäischen Union.

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Bereits zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat Ungarns rechtspopulistischer Premier Viktor Orbán klargestellt: Sein Land wird Sanktionen gegen Russland nicht zustimmen, die die Einfuhr von wichtigen Energieträgern einschränken. Das mitteleuropäische EU-Mitgliedsland sei zu sehr abhängig von russischen Gas- und Ölimporten, als dass es sich leisten könnte, auf diese zu verzichten, lautet seitdem das Mantra in den Budapester Regierungskanzleien.

Zugleich wird Orbán nicht müde, auch gegen bisherige Sanktionen – darunter Russland sehr wohl schmerzende Verbote von Technologieexporten – zu wettern, wo er nur kann. "Zuerst dachte ich, wir hätten uns ins Bein geschossen", sagte er im Juli in einem seiner Rundfunkauftritte. "Doch jetzt zeigt sich, dass sich die europäische Wirtschaft in die Lunge geschossen hat und um Luft ringt."

"Gelenkte Demokratie"

Orbáns Rhetorik erinnert an die Klagen österreichischer Wirtschaftskammerfunktionäre und ÖVP-Landeshauptmänner. Doch in Wirklichkeit speist sich die Nähe des Ungarn zum Kreml-Herrn Wladimir Putin längst nicht nur aus energiewirtschaftlichen Abhängigkeiten.

Der seit mehr als zehn Jahren von Orbán betriebene Aufbau eines "illiberalen Staates" – so die Eigendefinition – weist viele Ähnlichkeiten zur "gelenkten Demokratie" Putins auf, die inzwischen eine pure Autokratie geworden ist. Auch Orbán unterdrückt und marginalisiert freie Medien und führt Feldzüge gegen kritische Zivilorganisationen.

Ungarns rechtspopulistischer Premier Viktor Orbán wird nicht müde, auch gegen bisherige Sanktionen zu wettern.
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Ideologisch teilt man in Budapest mit dem Kreml die staatlich verordnete Homophobie, die "Sorge" um die angeblich bedrohten "familiären Werte" und "Traditionen" sowie das Narrativ vom Niedergang des transatlantischen Westens. Ungarns derzeitige Staatspräsidentin, Katalin Novák, die von Orbán ins Amt gehievt wurde, tat sich in ihrer Zeit als Familienministerin bei der diesbezüglichen Pflege von Netzwerken unter Beteiligung Russlands besonders hervor.

Kein Gleichklang in Mitteleuropa

Just Familienpolitik und Russland-Sanktionen waren auch jene Punkte, in denen Katalin Novák Einigkeit mit ihrem tschechischen Amtskollegen Miloš Zeman demonstrierte, als sie im Juni dieses Jahres Prag besuchte: Ausgerechnet auf der gemeinsamen Pressekonferenz kündigte Zeman an, ein allfälliges Gesetz über die Ehe für Homosexuelle in Tschechien mit seinem Veto verhindern zu wollen. Und auch in der Sanktionsdebatte waren beide um Gleichklang bemüht.

Dass sie dabei mehrfach betonten, Strafmaßnahmen gegen Moskau dürften zu Hause nicht mehr Schaden anrichten als in Russland, deutet aber nicht auf einen tatsächlichen Schulterschluss beider Länder hin. Zum einen ist die Überzeugung, dass Sanktionen die EU-Staaten nicht härter treffen dürfen als die russische Führung, ohnehin längst breiter europäischer Konsens. Zum anderen gibt es in Tschechien – anders als in Ungarn – zwischen Staatsoberhaupt und Regierung zum Teil beträchtliche Meinungsunterschiede.

Das prowestliche, überwiegend rechtsliberale Fünf-Parteien-Kabinett von Premier Petr Fiala steht voll hinter den Sanktionen. Tschechien, das derzeit den EU-Ratsvorsitz innehat, gehört sogar zu jenen Ländern, die der umstrittenen Visasperre für russische Bürgerinnen und Bürger das Wort reden. Aber auch Zeman, der vor dem Krieg ein viel kritisiertes Naheverhältnis zu Putin gepflegt hatte, hat sich von diesem mittlerweile distanziert.

Einzig die weit rechts stehende Oppositionspartei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) vertritt die Ansicht, dass die Sanktionen gegen Russland "von Anfang an völliger Unsinn" waren. Wenige Wochen vor den Kommunalwahlen und wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl deutet das darauf hin, dass man in Tschechien Forderungen nach einem Aufweichen der Sanktionen kaum für ein breitenwirksames Kampagnenthema hält.

Kontroversen im Westen

Noch entschlossener präsentiert sich freilich Polen. In dem rechtskonservativ regierten Land ist die Gegnerschaft zu Moskau historisch tief verwurzelt, die Solidarität mit der Ukraine wird von weiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen. Die Sanktionen infrage zu stellen wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt in keiner Weise mehrheitsfähig.

In EU-internen Debatten, etwa wenn es um Brüsseler Kritik an mangelnder Rechtsstaatlichkeit ging, zogen Warschau und Budapest häufig an einem Strang; in der Russland-Politik aber könnten ihre Positionen kaum unterschiedlicher sein. Polens Premier Mateusz Morawiecki brachte es Ende Juli auf den Punkt: "Die Wege Polens und Ungarns haben sich getrennt."

Eindeutig dynamischer ist die Debatte unter anderem in Frankreich. Marine Le Pen, Chefin der Rechts-außen-Partei Rassemblement National (RN), ist gegen die Sanktionen. "Sie nützen schlicht nichts, außer, dass sie die europäischen Völker treffen", sagte sie kürzlich. Sie wünsche sich daher, dass sie "verschwinden".

Ähnlich klingt das am linken Rand des politischen Spektrums. Laut der Trotzkistin Nathalie Arthaud würden die Sanktionen das russische Volk "aushungern". Linken-Chef Jean-Luc Mélenchon, der früher viele lobende Worte für Wladimir Putin gefunden hatte, bezeichnete die Maßnahmen schon vor den Präsidentschaftswahlen im Frühling als "wirkungslos".

Viele Gesichter der Sanktionsdebatte

Auch in Deutschland kommt die Kritik an den Sanktionen von ganz rechts (AfD) und ganz links (etwa von Sahra Wagenknecht, die Mitbegründerin der Linken). Innerhalb der breit gefächerten Ampelkoalition aus Sozialdemokraten (SPD), Liberalen (FDP) und Grünen läuft die Diskussion eher entlang der Frage, wie sich die Folgekosten des von Russland angezettelten Krieges und der Maßnahmen gegen Moskau sozial abfedern lassen.

Die Sanktionsdebatte in Europa, sie hat viele Gesichter. Angesichts unterschiedlicher historischer Erfahrungen und stark divergierender Abhängigkeiten von fossilen Energieträgern aus Russland ist das nicht weiter überraschend. Wer jedoch bereits beschlossene Sanktionspakete aufschnüren will, verschweigt in der Regel, dass diese auf europäischer Ebene einstimmig beschlossen wurden und dass ein Ausscheren einzelner Staaten kein realistisches Angebot in innenpolitischen Machtkämpfen ist.

Während Moskau auf die Spaltung Europas setzt, beschwört Brüssel daher die Geschlossenheit in der EU. Gemeinsam werde man die zerstörten Städte der Ukraine "Stein für Stein wieder aufbauen", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch, dem ukrainischen Unabhängigkeitstag. Es war ein Ausdruck des Prinzips Hoffnung. (Gregor Mayer aus Budapest, Stefan Brändle aus Paris, Gerald Schubert, 27.8.2022)