Das hier wird kein profunder Essay über Wokeness, "kulturelle Aneignung" und Cancel-Culture. Nur ein Hinweis darauf, dass ohne Kontext gar nichts geht in einer solchen Diskussion. Die Meldung, dass ein deutscher Verlag aufgrund irgendwelcher Shitstorm-Gruppen (welcher?) die Publikation eines Kinderbuchs über den "kleinen Winnetou" abgesetzt hat, schreit geradezu nach Kontext. Konkret nach historischem Kontext.

Ja, die indigenen Völker Nordamerikas (vormals: "Indianer") waren im 19. Jahrhundert einer langanhaltenden Dezimierungs-, wenn nicht Ausrottungspolitik durch die weißen Siedler und die U.S. Army ausgesetzt. Ob man dafür auch den Begriff Genozid ("Völkermord") benutzen und es mit der systematischen, industriellen Vernichtung der Juden und Roma durch die Nazis vergleichen soll, ist die Frage.

USA-Flagge im Navajo Nation Reservat, Arizona, USA.
Foto: imago/imagebroker/MarcxRasmus

Deswegen Kinderfilme und -bücher zurückzuziehen ist lächerlich und nimmt dem Thema das Recht auf ernsthafte Behandlung. Der Märchenerzähler Karl May hat für seine ungeheuer erfolgreichen Bücher Sujets herangezogen, die mit der Wirklichkeit seiner Zeit aber schon gar nichts zu tun hatten. Sein edler, sanfter Apache Winnetou war, verglichen mit echten Apachenkriegern wie Geronimo, ein Weichei. Die Apachen selbst wurden von Mexikanern und weißen Banden unbarmherzig massakriert – allerdings wird gern vergessen, dass sie jahrhundertelang ihre Nachbarn, Indianer wie Weiße, ebenso unbarmherzig und grausam terrorisiert hatten.

Kontext und historische Wahrhaftigkeit

Wenn wir anfangen, Kultur und Literatur auf heute nicht mehr tragbare Inhalte abzusuchen, um sie dann zu "säubern", dann hört sich Literatur überhaupt auf. Eines der ältesten und großartigsten Werke der europäischen Literatur, Homers Ilias, sagt in der ersten Zeile, dass die Göttin den "Zorn des Achilles" besingen soll. Der Zorn des Kriegers Achill handelt aber davon, dass ihm der Heerführer Agamemnon seine Kriegsbeute und Sexsklavin Briseis wegnimmt, weil dieser wiederum auf Druck des Gottes Apoll seine Kriegsbeute und Sexsklavin Chryseis an ihren Vater zurückgeben muss. Stampfen wir jetzt den Kinder Homer: Ilias und Odyssee spannend nacherzählt ein?

Solche "Säuberungen" sind allerdings bereits im Gange, und zwar sozusagen von beiden Enden des Spektrums. Ultrakonservative und evangelikale Gruppen in den USA "säubern" die Schulbüchereien von (für sie) gefährlichen Werken – und schon vor über zehn Jahren erschienen die beiden Klassiker von Mark Twain, Tom Sawyer und Huckleberry Finn nur in einer (um das Wort "Nigger") gereinigten Fassung. Wenn man einmal mit so etwas anfängt, ist kein Halten mehr. Die ukrainische Regierung lässt derzeit Straßen umbenennen, die nach den russischen Dichtern Puschkin und Tolstoi benannt sind. Das ist töricht und kontraproduktiv.

Weltliteratur ist Weltliteratur, egal, ob sich das Putin-Regime nun auf ein "russisches kulturelles Erbe" beruft, zu dem auch die beiden Autoren gehören. Tolstoi diente übrigens als junger Mann im Krieg im Kaukasus gegen die Tschetschenen und verfasste einige literarische Texte dazu – war er also ein Kolonialist, der aus dem literarischen Kanon getilgt gehört?

Kontext und historische – und "innere" – Wahrhaftigkeit sind das Einzige, was in all diesen Debatten zählt. Karl May ist keine Weltliteratur, aber ein Phänomen der deutschen Kultur (er war übrigens Pazifist und seine Helden, ob Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi, töten nicht). Und so muss man ihn betrachten. (Hans Rauscher, 27.8.2022)