Das Koalitionsklima sei derzeit "pragmatisch" und "ordentlich", findet Karner.

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STANDARD: Herr Karner, eine neue Kampagne des Innenministeriums in Herkunftsländern potenzieller Asylwerbender soll diese mit drastischen Sujets davon abhalten, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Werden Menschen, die migrieren wollen, davon nicht ziemlich unbeeindruckt bleiben?

Karner: Ziel der Kampagne ist, eine Gegenerzählung zu den Erzählungen der Schlepperbanden zu liefern. Sie gaukeln potenziellen Migranten eine heile Welt vor und behaupten, dass sie in Europa arbeiten könnten, Zugang zu Sozialversicherung und Kinderbetreuung hätten wie Vertriebene aus der Ukraine. Das stimmt aber nicht.

STANDARD: Laut Migrationsexpertinnen und Migrationsexperten machen sich Menschen aber nicht auf den Weg, weil Schlepper sie davon überzeugen, sondern weil es Fluchtursachen in ihren Heimatländern gibt.

Karner: Bei den aktuellen Asylanträgen kommen 80 bis 85 Prozent der Antragsteller mittels Schleppern. Die Schleppermafia ist mittlerweile eine der größten Gruppen organisierter Kriminalität. Manche sagen, da wird mehr verdient als im Drogenhandel. Das ist ein ernst zu nehmender Faktor, und daher liegt unser Fokus auch in der Bekämpfung dieser Schlepperkriminalität. Allein in diesem Jahr haben wir bisher mehr als 340 Schlepper festgenommen, von großen bis zu kleinen Fischen. Mit der Kampagne versuchen wir – durchaus mit drastischen Mitteln –, vor allem in jenen Ländern zu informieren, aus denen es kaum Chancen auf Asyl gibt: Indien, Marokko, Tunesien, Pakistan – insgesamt acht Länder. Nicht geschaltet wird die Kampagne dagegen in Ländern, aus denen eine hohe Chance auf Asyl oder subsidiären Schutz besteht wie Syrien oder Afghanistan.

Mit Sujets wie diesem sollen potenzielle Migranten davon abgeschreckt werden, die Reise nach Europa anzutreten.
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STANDARD: In Afghanistan hat es aber schon 2016 eine ähnliche Kampagne gegeben – ohne empirische Belege, dass sie etwas bewirkt hat. Warum sollte das diesmal anders sein?

Karner: Die Empirie, die Wissenschaft ist das eine, die Fakten sind das andere. Faktum ist, aus welchen Gründen auch immer, dass nach 2016 die Zahl der Asylwerber deutlich zurückgegangen ist.

STANDARD: Aber nicht aus Afghanistan.

Karner: Dort läuft sie jetzt auch nicht, und das ist eine bewusste Entscheidung. Jede Kampagne, die man lanciert, kann man adaptieren. Das ist auch in diesem Fall passiert. Eine Kampagne kann nicht monokausal so wirken, dass wir in drei Wochen weniger Anträge hätten. Es kann nie eine Einzelmaßnahme sein, es braucht ein Bündel an Maßnahmen mit vielen Rädchen, damit illegale Migration zurückgeht.

STANDARD: Welche?

Karner: Es braucht die Kontrollen an den Grenzen, auch gemeinsam mit den ungarischen Kollegen und an der ungarisch-serbischen Grenze, wo auch 50 Polizistinnen und Polizisten aus Österreich sind. In weiterer Folge ist die Europäische Kommission gefordert, Rückübernahmeabkommen mit den betroffenen Ländern zu schließen, um auch den Weg der legalen Migration klar aufzuzeigen. Denn ich stelle mich nicht gegen legale Zuwanderung. Ich kämpfe gegen illegale Einwanderung.

STANDARD: Legale Fluchtwege gibt es aber nach wie vor praktisch nicht.

Karner: Aber die Möglichkeit legaler Einwanderung über die Rot-Weiß-Rot-Karte, wenn man über entsprechende Qualifikationen verfügt. Bei ihr gab es heuer schon eine Erleichterung, im Herbst wird im Parlament über eine weitere diskutiert, damit man zu vereinfachter legaler Zuwanderung kommt.

STANDARD: Die Rot-Weiß-Rot-Karte zielt vor allem auf schon hochqualifizierte Schlüsselarbeitskräfte ab. Aber wäre es beim massiven Arbeitskräftemangel vom Tourismus bis zur Pflege nicht wichtig, auch Menschen zu holen, die in Österreich eine Ausbildung erhalten?

Karner: Der Initiativantrag für weitere Vereinfachungen, um zu benötigten Arbeitskräften zu kommen, liegt bereits im Parlament. Meine zentrale Aufgabe als Innenminister ist es aber, klar zu unterscheiden zwischen legaler und illegaler Migration mithilfe von Schleppern. Die will ich verhindern.

STANDARD: Die Zahlen der Asylanträge in Österreich steigen aktuell stark an. Ist das nicht auch ein Zeichen dafür, dass hochgefahrene Grenzschutzmaßnahmen, auch von Frontex, offenbar kein geeignetes Mittel sind, um den Migrationsdruck nach Europa ernsthaft einzuschränken?

Karner: Kontrollen bedeuten natürlich auch Aufgriffe – und damit Anträge. Dazu bekenne ich mich. Denn die Kontrollen sind nötig, um illegale Migration zu bekämpfen. Der Umkehrschluss wäre, dass sich so wie in den Jahren 2015 und 2016 Menschen einfach auf den Weg nach und durch Österreich machen und auf den Straßen und Autobahnen marschieren. Meine Verantwortung liegt auch darin, jene, die kommen, zu registrieren. Das passiert. Viele entziehen sich danach dem Verfahren, verzichten freiwillig auf den Schutz. In den ersten Monaten waren das 10.000 von rund 15.000 Schnellverfahren.

STANDARD: Sie nennen die harte Asyl- und Migrationspolitik Dänemarks als Vorbild für Österreich und die EU – besonders die dänische Idee, Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der EU auszulagern. Rechtlich ist das aber für kein EU-Land außer Dänemark, das sich beim Beitritt eine Sonderregel ausverhandelt hat, möglich. Warum bringen sie das Thema dennoch auf?

Karner: Auch in den vergangenen Jahren sind im Mittelmeer beziehungsweise Atlantik tausende Menschen ertrunken. Das kann es nicht sein. Da ist es doch legitim, darüber nachzudenken, Asylverfahren in Drittstaaten durchzuführen, damit sich Menschen nicht auf den Weg über das Mittelmeer machen oder in vollgestopften Lkws ersticken. Diese Debatte will ich auf europäischer Ebene in Gang bringen – emotionslos, nicht mit dem Zeigefinger: Welche Möglichkeiten gibt es, Tote im Mittelmeer zu verhindern?

Karner hält es für eine gute Idee, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern.
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STANDARD: Dänemark will seine Asylverfahren nach Ruanda auslagern. Die Menschenrechtslage in dem Land ist laut NGOs aber desaströs, es gibt Berichte über Folter als staatlich eingesetzte Methode gegen Oppositionelle und außergerichtliche Tötungen. Wie soll es da faire Asylverfahren geben?

Karner: Das sind alles Dinge, die in die Diskussion mit einbezogen werden müssen. Wir haben große Agenturen wie die IOM (Internationale Organisation für Migration, Anm.). Deren Aufgabe ist es, die Lage in den verschiedenen Ländern, auch in Syrien und Afghanistan, immer wieder neu zu bewerten. Es geht mir darum, nicht in der Debatte zu verharren, sondern Denkanstöße dafür zu geben.

STANDARD: Und da halten Sie es für eine Option, Asylverfahren nach Ruanda auszulagern?

Karner: Das wollen Dänemark und Großbritannien. Aber warum sollen wir jetzt über ein konkretes Land reden, wenn wir in Österreich noch nicht einmal die Möglichkeit haben? Mir geht es um die Frage: Wie schaffen wir es, Verfahren in sicheren Drittstaaten durchzuführen, damit sich Menschen, die ohnehin wieder zurückkehren müssen, nicht unnötig auf den Weg machen?

STANDARD: Im Fall Tina hat der Verwaltungsgerichtshof entschieden, dass die Abschiebungen rechtswidrig waren. Sie beharren weiter darauf, dass auch eine Entscheidung für eine Abschiebung möglich gewesen wäre. Nährt ein Minister, der das so formuliert, nicht Zweifel am Rechtsstaat?

Karner: Nein. Das Urteil ist selbstverständlich zur Kenntnis zu nehmen. Aber im Urteil des Verwaltungsgerichtshofs ist eben auch gestanden, dass das Bundesverwaltungsgericht auch anders hätte entscheiden können, weil es auch ein Fehlverhalten der Mutter gab. Und das Urteil hat keine unmittelbare rechtliche Auswirkung auf die jetzige Situation, weil Asylverfahren immer Einzelentscheidungen sind. Die betroffene Person ist mit einem Schülervisum in Österreich. Und die anderen sind in ihrer Heimat Georgien.

STANDARD: Wann kommt die im Regierungsprogramm angekündigte unabhängige Ermittlungs- und Beschwerdestelle gegen Polizeigewalt?

Karner: Ich hoffe, bald. Aus dem Regierungsprogramm sind schon viele Dinge umgesetzt, einige Dinge müssen noch verhandelt werden, und das passiert. Wir hatten kürzlich Halbzeit – also ist noch Zeit, das umzusetzen. Aber es wird umgesetzt.

STANDARD: Die Stelle soll im Innenministerium angesiedelt werden. NGOs wie Amnesty International kritisieren, dass man damit nicht von Unabhängigkeit sprechen kann. Warum siedeln Sie sie nicht etwa bei der Volksanwaltschaft an?

Karner: Wir sind noch in Verhandlungen. Entscheidend ist, dass es eine gute, unabhängige Behörde wird – weniger, wo sie angesiedelt ist. Wichtig ist, dass unabhängig beurteilt wird.

STANDARD: Wenn die Stelle dem Innenministerium unterstellt ist, ist das mindestens keine gute Optik.

Karner: Entscheidend ist nicht die Optik, sondern die Unabhängigkeit. Und auf die lege ich Wert.

STANDARD: Weisungen sollen laut dem Entwurf nur schriftlich erfolgen dürfen. Verwaltungskenner und -Insider berichten, dass in Ministerien in der Vergangenheit aber immer wieder zum Telefonhörer gegriffen wurde. Wie wollen Sie sicherstellen, dass das nicht passiert?

Karner: Dadurch, dass das ordentlich durch die Verhandlungspartner vorbereitet wird, sodass Unabhängigkeit gewährleistet ist. Und da ist man in intensiven Gesprächen. Es ist nicht entscheidend, wo die Stelle ist und wie das ausschaut, sondern dass das so ist.

STANDARD: Kommen wir zum Fall Kellermayr. Sie haben sich als zuständiger Minister in der Öffentlichkeit dazu nicht geäußert. Hat die Polizei alles richtig gemacht?

Karner: Es ist auch nicht immer notwendig, sich öffentlich zu äußern. Entscheidend ist, dass intern die notwendigen Maßnahmen gesetzt werden. Und es wurden viele gesetzt. Unter anderem habe ich den Direktor der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst schon im Frühjahr beauftragt, persönlichen Kontakt mit Doktor Kellermayr aufzunehmen. Aber auch in diesem besonders tragischen Fall, wenn ein Mensch Selbstmord begeht, bin ich nicht bereit, Einzelne an den digitalen Pranger zu stellen. Es ist immer etwas besonders Furchtbares, wenn sich ein Mensch das Leben nimmt. Und da gibt es, das werden Psychologen bestätigen, wahrscheinlich sehr, sehr viele Gründe.

STANDARD: Sie hätten hier niemanden persönlich nennen müssen, aber sie hätten signalisieren können, dass die Polizei etwaige Fehler lückenlos aufklären will.

Karner: Es wurde polizeilich sehr vieles von vielen getan. Was das Thema Cyberkriminalität betrifft, müssen wir uns breiter aufstellen. Und das passiert. Die Kriminaldienstreform wurde im letzten Jahr bereits in Auftrag gegeben und soll weitere Cyberermittler-Teams in den einzelnen Regionen schaffen. Und da wird es wahrscheinlich auch das eine oder andere in Sachen Strafen geben, wo wir nachjustieren müssen.

STANDARD: Welche Lehren haben Sie konkret für Ihre Behörden gezogen?

Karner: Entscheidend in diesem Fall ist, dass im Bereich der Cyberkriminalität Akzente gesetzt werden. Entscheidend ist, dass wir in der Breite sensibilisieren. Und letztendlich haben wir auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Twitter wird oft genannt als modernes Medium. Mir kommt Twitter sehr alt vor. Es erinnert mich an das Mittelalter. Marktplatz, aufgeregtes Treiben, Prangern, Verbrennungen. Da haben wir eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, auch dagegen anzugehen.

STANDARD: Gibt es Bedarf für mehr Ressourcen in Sachen IT-Kompetenz?

Karner: Es gibt Bereiche, wo wir vielleicht nachjustieren müssten. Wir sind in Gesprächen, auch personell. Wir werden in Zukunft eine Art Cyber-Cobra als Antwort auf die Phänomene brauchen, die wir jetzt sehen: Hass im Netz, Deepfakes, Hackerattacken.

Gesetze gegen Cyberkriminalität müssten laufend nachjustiert werden.
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STANDARD: Hätte man das nicht schon beim Gesetzespaket gegen Hass im Netz vor einem Jahr beschließen können?

Karner: Ich glaube, dass das Paket vieles auf den Weg gebracht hat. Solche Dinge müssen immer weiterentwickelt werden. Vor 20 Jahren hat es das Thema Cyberkriminalität zum Beispiel noch nicht gegeben.

STANDARD: Aus dem Verfassungsschutz wird vor dem Hintergrund von Pandemie und Teuerungswelle vor einer massiven Radikalisierung von Protesten im Herbst gewarnt. Was erwartet uns da? Und welche Maßnahmen setzt Ihr Ministerium?

Karner: Wir haben gesehen, dass manche Gruppen Kundgebungen nutzen, um für krude Theorien zu werben: QAnon, "Querdenker" und andere Leute, die da aus ganz unterschiedlichen Lagern ihr Publikum fischen. Es kann sein, dass sie schwierige wirtschaftliche Herausforderungen nutzen, um auf die Straße zu gehen. Da ist mein Appell an alle, die Sorgen haben, sich nicht von diesen Gruppen missbrauchen zu lassen. Und an die politischen Parteien und auch Gruppierungen, einen kühlen Kopf zu bewahren, damit wir den heißen Herbst, von dem oft gesprochen wird, verhindern.

STANDARD: Sind Sie auf so einen heißen Herbst vorbereitet?

Karner: Dass wir vorbereitet sind, hat die Polizei gerade in Wien intensiv bewiesen, wenn ich an die Demonstrationen denke. Bei aller Kritik haben wir gesehen, dass in anderen Städten Auslagen kaputt waren oder Straßenzüge gebrannt haben. Der Staatsschutz ist außerdem international aufgeschaltet.

STANDARD: Wie finden Sie eigentlich das Koalitionsklima mit den Grünen derzeit?

Karner: Pragmatisch, ordentlich. Die Dinge werden abgearbeitet.

STANDARD: Sie gehen davon aus, dass die Regierung bis zum Ende der Legislaturperiode hält?

Karner: Wir sind vom Bundespräsidenten bis dahin angelobt, und da gehe ich davon aus, dass das so ist. (Muzayen Al-Youssef, Martin Tschiderer, 26.8.2022)