Letzte Kinderspiele: In Carla Simóns "Alcarrás" beobachtet die Veränderungen eines Lebensstil aus der Innenperspektive einer Familie.

Foto: Panda Film

Ein Salathäuptel ist ein treffliches Geschütz, das herrlich schmatzt, wenn es auf sein Opfer trifft. Erntesteigen für Pfirsiche dienen als kleine Häuser, ein fahruntüchtiger 2CV als imaginäres Flugzeug. Die Obst- und Gemüseplantagen der Familie Solé im Nordwesten Kataloniens sind ein wahres Spielplatzparadies. Das anarchische Toben der Kleinen treibt den Bauern zwar beinahe zur Raserei, aber das gehört eindeutig zur Folklore dazu.

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Nicht von ungefähr beginnt Carla Simón ihren Film mit einem Eingriff in diese trügerische Idylle der Kinder. Ein Kran steht auf dem Feld und wird das alte Autowrack bald entfernen. Er ist der Vorbote einer viel größeren Umwälzung. Die Pfirsichfelder sollen ertragreicheren Solaranlagen weichen. Dann würde die Existenzgrundlage der Solés mit einem Mal fehlen.

Der jüngste Spross der Pinyol-Familie, der Landbesitzer, hält sich nicht mehr an den lange gültigen Generationenvertrag. Der rührte aus Tagen, als Ehre noch Ehre war: Während des Spanischen Bürgerkriegs gewährte der Urgroßvater der Solés den Pinyols Unterschlupf und rettete ihnen so das Leben. Zum Dank überließen diese den Bauern die Plantage. Eine "mündliche Vereinbarung", die man nun leicht umgehen kann. Es gibt keine Verträge.

Keine David-gegen-Goliath-Geschichte

Mit Alcarràs hat die 35-jährige spanische Filmemacherin dieses Jahr den Goldenen Bären bei der Berlinale gewonnen. Es ist ein Film, der sich vom sozialrealistischen Arthouse-Kino, in dem klar umrissene Helden als David gegen den Goliath des entfesselten Kapitals aufbegehren, wohltuend abhebt. Statt ein kämpferisches Individuum aufs Podium zu stellen, webt Simón das viel breitere Panorama eines quirligen Familienverbunds. Man hält zusammen – doch das bedeutet noch lange nicht, dass man noch geeint an einer Front kämpfen würde.

Die aufmerksame Kamera verbündet sich mit den Pfirsichbauern, daraus entsteht allmählich eine Innenperspektive, aus der der Film eine fast semidokumentarische Qualität bezieht. Simón hat alle Rollen mit Amateurschauspielern aus der Gegend von Lleida besetzt. Die Besonderheit des Films liegt darin, wie sich die Handlung weniger aus dem großen Konflikt als aus Beobachtungen, den Bewegungen der Körper formt. Jede Generation geht mit der Bedrohung auf ihre Weise um – am hitzköpfigsten agiert Qimet, das Familienoberhaupt, der sich in die nächste Erntearbeit stürzt, ohne wahrhaben zu wollen, dass es die letzte sein könnte. Beim Rotwein-Wetttrinken am jährlichen Kirtag beweist er, dass immer noch der schnellste ist.

Kostbare Miniaturen

Alcarràs schweift immer wieder zu solchen szenischen Miniaturen ab, in denen die Figuren etwas über ihren Charakter preisgeben. Simòn selbst habe sich mit der zwölfjährigen Mariona identifiziert, erzählte sie in einem Interview, einer Figur, die sich meist aufs Beobachten beschränkt. Einmal schließt sie die Tür, im Mund gleich zwei Eislutscher, um ihrem auf dem Sofa dösenden Großvater das Gerede zu ersparen. Die Nähe der Älteren zu den Jüngsten führt zu einigen der schönsten und zugleich wehmütigsten Szenen des Films. Hier wird am deutlichsten, wie gelebte Tradition bereits zur Erinnerung gerinnt.

Mit dem Angebot, die Solaranlagen zu warten, kann fast niemand in der Familie etwas anfangen. Roger, Qimets Sohn, versucht sich an einem Nebengeschäft und setzt mitten in den Feldern ein paar Cannabispflanzen. Natürlich führt auch dieser Schritt nur zu einem weiteren kleinen Zerwürfnis. Eine Kulturlandschaft verschwindet. Carla Simón sieht dabei zu. (Dominik Kamalzadeh, 27.8.2022)