Die Welt steht kopf. Fehlten früher Arbeitsplätze und war die größte Sorge der Politik eine hohe Arbeitslosenquote, so sind es heute die Arbeitnehmer, die uns ausgehen. Der Mangel ist überall spürbar. 138.000 offene, sofort zu besetzende Stellen hat derzeit das Arbeitsmarktservice AMS gelistet. Das ist ein absoluter Rekordwert, vor zehn Jahren gab es um diese Zeit im Sommer um die 30.000 gemeldete freie Jobs.

Zu sehen ist hier aber wohl nur die Spitze eines Eisbergs, viele Stellen werden nicht via AMS ausgeschrieben. Von bis zu 300.000 unbesetzten Jobs spricht der Chef des Forschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr, auf Basis von Erfahrungswerten aus Deutschland.

Laut Daten des Arbeitsministeriums geben aktuell 80 Prozent der Unternehmen an, Probleme bei der Besetzung mit Facharbeitern zu haben. Dabei ist die Lücke groß und breit gefächert: Im Baugewerbe fehlen Leute, ebenso wie im Tourismus und im Handel. Die Industrie sucht Spezialisten und Spezialistinnen, viele Gastronomiebetriebe Kellnerinnen und Kellner.

Wenn auf einem Markt ein Gut knapp wird, dann steigt im Regelfall der Preis dafür. Das sollte bei Tomaten und Kühlschränken in der ökonomischen Theorie nicht anders sein als bei Arbeitskräften. Personalberater skizzieren tatsächlich schon eine schöne neue Welt, die da angeblich auf Beschäftigte zukommt.

Der Jobmarkt werde mehr und mehr zum Arbeitnehmermarkt, auf dem Menschen zwischen den verschiedensten Jobangeboten auswählen können. "Mussten sich früher Kandidaten bei Unternehmen bewerben, ist es jetzt umgekehrt", schreibt ein Personalberater. Auch Arbeitsmarktexperten sprechen davon, dass die Karten neu gemischt werden: "Die Firmen müssen tanzen, wenn sie den einen kriegen wollen", formuliert es AMS-Chef Johannes Kopf.

Die Löhne sinken, statt zu steigen

Aber wenn dieser Tanz schon begonnen hat, dann findet er noch nicht auf offener Bühne statt, sondern hinter verschlossenen Türen in einem Proberaum. Seit Juli des vergangenen Jahres sind die kollektivvertraglich vereinbarten Mindestlöhne laut einem Index der Statistik Austria um gerade 3,1 Prozent gestiegen. Das ist nicht nichts, aber das liegt deutlich unter der Inflationsrate in der Zeit.

Wirklich große Gehaltssprünge hat es laut Personalberatern nur bei Fachkräften gegeben, dort wo spezielle Kenntnisse gesucht werden: Etwa bei Automatisierungstechnikern, Projektmanagern, Konstrukteuren, sagt Elisabeth Punzhuber vom Personalberater Hill International in Linz, die in diesem Zusammenhang von wahren "Gehaltsexessen" in den vergangenen Monaten spricht.

Aber das betrifft nur einen kleinen Teil der Arbeitnehmer. Für die anderen könnte es bei moderaten Lohnerhöhungen bleiben. Am 19. September startet die traditionell wichtige Herbstlohnrunde der Metaller, dessen Ergebnis auch für weitere Kollektivvertragsverhandlungen wichtig ist. Gewerkschaften geben sich öffentlich kämpferisch, doch unter der Hand ist davon die Rede, dass gute Abschlüsse alles andere als ausgemacht sind und es zähe Gespräche werden könnten.

Wirtschaftsforscher prognostizieren für heuer tatsächlich die kräftigsten Reallohnverluste, die es in den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat. Die Gehälter werden zwar steigen, aber nicht einmal die Inflationsrate abdecken (siehe Infobox). Die realen Bruttolöhne sollen demnach um fast vier Prozent sinken. Im kommenden Jahr wird zwar wieder ein Lohnplus erwartet, aber keines, das dieses Minus kompensiert. Die Löhne werden über die zwei Jahre betrachtet inflationsbereinigt netto nur deshalb steigen, weil der Staat die kalte Progression abschafft.

Gewinne sprudeln noch

An den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen liegt das nicht. Aktuell erwarten Wirtschaftsforscher für heuer 4,3 Prozent Wachstum. Trotz des Krieges in der Ukraine und der steigenden Inflation entwickelt sich der Konsum erstaunlich robust. In der Industrie sind die Erwartungen zwar eingetrübt, aber aktuell sind Auftragsbücher noch gut gefüllt. Die Unternehmen können die Preiserhöhungen größtenteils an ihre Kundinnen und Kunden weitergeben – darum steigt ja die Inflation. Die Firmengewinne dürften heuer stark und im kommenden Jahr moderat steigen.

Und dann ist da eben der Mangel an Arbeitskräften. Schuld daran ist ein Mix an Ursachen: Nach der Pandemie ist die Wirtschaft überraschend rasch angesprungen, während manche Arbeitnehmer nicht voll zurückkehren wollten. Hinzu kommt der "Mismatch", wie Ökonomen sagen: Viele Bewerber bringen nicht die richtige Qualifikation mit.

Und Menschen im arbeitsfähigen Alter werden weniger. Laut der Statistik Austria sinkt die Zahl der Menschen im Alter zwischen 15 und 65 seit dem vergangenen Jahr. Diese Schrumpfung beschleunigt sich noch: Bis 2030 wird es laut Prognose der Statistik um 220.000 weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter geben.

Weit in die Vergangenheit

Was auch immer die Ursachen sind, Fakt ist also, dass die Knappheit nicht bei Kühlschränken herrscht, sondern bei Arbeitskräften. Warum also sind dann die Lohnabschlüsse gedämpft? Ein Teil der Erklärung liegt darin, was und wie bei Kollektivvertragsverhandlungen verhandelt wird.

Als Faustregel dient Gewerkschaften und Arbeitgebern dabei die Benya-Fomel, die in den 1970er-Jahren entwickelt wurde und nach dem langjährigen ÖGB-Chef Anton Benya (1912–2001) benannt ist. Die Lohnsteigerungen ergeben sich demnach aus der Inflation der vergangenen zwölf Monate plus des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachses.

Wenn die Statistik Austria also die Entwicklung der Löhne in den Kollektivvertragsabschlüssen der vergangenen zwölf Monate abbildet, ist das in Wahrheit ein Blick weit in die Vergangenheit zurück, in die Zeit vor der aktuellen Inflationskrise. Für einen im Herbst 2021 geschlossenen Tarifvertrag beispielsweise war die Inflation seit Herbst 2020 relevant. Diese Rate war noch viel niedriger als aktuell.

Keine gigantischen Sprünge

Aber das ist nicht der einzige Grund dafür, dass bei Kollektivverträgen keine gigantischen Sprünge zu erwarten sind. Unternehmen haben bei Verhandlungen bei genauem Hinsehen – Knappheit hin oder her – keinen Grund, freigiebig zu sein. Denn das ist gar nicht die Ebene, auf der sie versuchen, attraktiv zu sein, um neues Personal zu finden.

Die Kollektivverträge legen Mindestlöhne in den jeweiligen Branchen fest, sind also nur eine Unterkante bei der Bezahlung. Dazu wird oft eine Anpassung der Ist-Löhne verhandelt. Aber mit am Tisch sitzen solche Unternehmen, denen Arbeitnehmerinnen fehlen, und solche, die keinen Mangel oder nur einen geringen verspüren.

Selbst alle Arbeitgeber einer Branche haben da also gar nicht die gleichen Interessen. Die Betriebe versuchen, Arbeitnehmer individuell anzulocken, da können sie spezifischere Angebote machen, wie auch AMS-Chef Johannes Kopf sagt.

Die Formel der Verhandler

Aber auch bei der Gewerkschaft gibt es Grenzen dessen, was sie an Lohnsteigerungen fordern. Die Benya-Formel besagt, dass neben der Inflation die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität maßgeblich ist.

Mit dieser Kennzahl messen Ökonominnen, wie effizient Kapital und Arbeit eingesetzt werden: Kann ein Betrieb durch bessere Maschinen mehr Motoren produzieren, steigt seine Produktivität. Der Industrie gelingt regelmäßig durch technische Innovation eine solche Verbesserung. Dienstleister wie Friseure tun sich hingegen schwer, weil Haare sich nun einmal nicht schneller schneiden lassen.

Die Produktivität lässt sich nicht überall so leicht steigern: Haare zu schneiden braucht eben seine Zeit.
Foto: Imago / Westend61 / Julio Rodriguez

Die Lohnverhandlungen werden in Österreich auf Branchenebene geführt, Eisenbahner verhandeln getrennt von Metallern oder Konditoren. Bei den Gesprächen wird aber darauf mit abgestellt, wie sich die Produktivität in der gesamten Wirtschaft entwickelt, und nicht bloß in den einzelnen Branchen. Das bedeutet zweierlei: Erstens, auch in Wirtschaftszweigen, die gar nicht effizienter geworden sind, kann meist ein Lohnplus verteilt werden. Wie bei den Friseuren.

Mit breiter Brust zu Gesprächen

Der Blick auf die Gesamtentwicklung bremst aber zweitens sehr höhe Abschlüsse in Branchen, die deutlich effizienter geworden sind. Damit ist für einen gewissen Kitt zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, zwischen Friseuren und Metallern, gesorgt. Deshalb hält auch die Gewerkschaft an der Formel fest.

Nun ist das Ganze freilich nur eine Faustregel, niemand hält sich exakt an die Benya-Formel. Sonst wären Verhandlungen auch unnötig. So spielt die Gewinnsituation in einzelnen Branchen natürlich eine Rolle. Auch das gesamtwirtschaftliche Umfeld abseits der Inflation ist relevant. Weniger Arbeitslose ermöglichen Gewerkschaften, an die obere Kante möglicher Forderungen zu gehen, oder wie das Roman Hebenstreit, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Vida, sagt: "Unsere Position ist gestärkt."

Aber auch die Gewerkschaft kämpft damit, dass sie nicht überall mit gleich breiter Brust auftreten kann. Bei Eisenbahnern sind laut Hebenstreit 90 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Gewerkschaft. In Tourismusbetrieben sind es nur zehn Prozent.

Weniger Gewerkschaftsmitglieder bedeuten, dass es schwieriger ist, kollektiv höhere Lohnforderungen durchzusetzen. Die schärfste Waffe der Arbeitnehmer ist bekanntlich die Streikdrohung. Diese Karte kann eine Gewerkschaft aber nur ausspielen, wenn sie genügend Leute mobilisieren kann.

Wettbewerbsfähigkeit

Und natürlich haben auch Unternehmer gute Argumente bei den Lohnverhandlungen: Die hohen Energiekosten belasten Betriebe, die viel exportieren, weil in anderen Teilen der Welt Energie nicht so viel teurer geworden ist wie in Europa, heißt es bei der Industriellenvereinigung. Wenn nun noch große Lohnsprünge dazukämen, wäre das für die Wettbewerbsfähigkeit schwierig.

Bei den Industriellen ist schon die Rede von einer "Benya-Formel plus", bei der auch berücksichtigt werden soll, dass die Regierung wegen der hohen Inflation schon mehrere Entlastungspakete beschlossen hat. Statt dauerhafter Lohnerhöhungen wünschen sich Unternehmer zudem Einmalzahlungen. Für Gewerkschafter ist das eine rote Linie.

Die Lohngespräche der Sozialpartner werden also schwierig und dürften Arbeitnehmern kein Schlaraffenland bringen. Geschieht das vielleicht über individuelle Vereinbarungen? Möglich, aber garantiert ist auch das nicht. Denn am Arbeitsmarkt herrscht begrenzte Flexibilität. Wer einen anderen Job sucht, muss nicht nur aus seiner gewohnten Umgebung ausbrechen, sondern vielleicht auch pendeln oder umziehen.

Es muss Wettbewerber am Markt geben, die Arbeitnehmer abwerben, wie Benjamin Bittschi vom Wifo sagt. Eine neue Studie des Ökonomen Niklas Engbom von der New York University Stern School of Business zeigt, dass in Ländern, in denen Arbeitnehmer öfter von einem Job direkt in einen anderen wechseln, dies mit höheren Lohnsteigerungen einhergeht.

Jobwechsel

Jeder solche Wechsel bringt im Schnitt fünf bis sechs Prozent mehr Lohn. Dass Unternehmen sich das leisten können, liegt daran, dass durch die Wechsel Betriebe jene Mitarbeiter zu sich holen können, die am besten zu ihnen passen und am effektivsten arbeiten können.

Österreich gehört laut der Untersuchung aber zu einer Gruppe mit Ländern wie Belgien und Griechenland, bei der Mitarbeiter selten direkt von einem Job in den nächsten wechseln: In den USA oder in Großbritannien sind Jobwechsel zweieinhalbmal so häufig.

Ältere Studien zum Arbeitsmarkt in Kontinentaleuropa kommen zu ähnlichen Ergebnissen: So zeigen der deutsche Ökonom Jens Südekum und Kollegen, dass in Deutschland Arbeitnehmer in Industriezweigen, die unter der Konkurrenz aus China und Osteuropa gelitten haben, sich schwergetan haben, in andere Bereiche im Dienstleistungssektor zu wechseln, wo Jobs zu haben waren.

Statt zu freien Stellen führte der Weg oft zuerst in die Beschäftigungslosigkeit. Auch hier fehlte es also an der Flexibilität im Jobmarkt. Da der deutsche Arbeitsmarkt jenem in Österreich nicht unähnlich ist, dürften sich die Ergebnisse zum Teil übertragen lassen.

Die Studien zeigen die Entwicklung vergangener Jahre. Hat die Krise etwas daran geändert?

Laut einer Auswertung des AMS für den STANDARD gibt es erste Hinweise darauf. So haben im ersten Halbjahr 2022 166.000 Menschen den Job direkt für einen anderen eingetauscht. Das sind um 40.000 mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahrs und um 20.000 mehr als vor der Pandemie. Auch fangen erste Unternehmen an, in Jobportalen nicht nur zu schreiben, dass sie zu Überzahlungen bereit sind, sondern auch konkrete Summen zu nennen, wie AMS-Chef Kopf sagt.

Der Arbeitsmarktökonom Martin Halla von der Johannes-Kepler-Uni Linz ist überzeugt, dass die Löhne schon anziehen werden, wenn Stellen länger unbesetzt blieben. Unternehmen, die nicht bereit oder in der Lage sind, mitzuziehen, werden aus dem Markt ausscheiden. Auch wenn der Arbeitsmarkt kein perfekter Markt sein mag, der Preismechanismus wird also wirken, sagt Halla. Es sei bloß eine Frage der Zeit. (András Szigetvari, 26.8.2022)