Erst wenn Bürgermeister Wiktor Kowalenko unruhig wird, breitet sich die Angst auch unter den Männern und Frauen aus, die an diesem Sommertag die gerade ankommenden Hilfsgüter des Internationalen Roten Kreuzes in Empfang nehmen. Der Lärm der Explosionen, den man in der kleinen Stadt Solotschiw in der Oblast Charkiw beinahe ganztägig hört, rückt immer näher. "Schwer zu sagen, ob das Feuer eingehend oder ausgehend ist", erklärt Kowalenko. "Wir stehen seit dem ersten Tag des Krieges ständig unter Beschuss."

Eine Sirene ist nicht zu hören – sie wurde schon vor Monaten abgestellt. In Solotschiw würde sie sonst wohl nicht mehr verstummen. "Runter in den Schutzkeller", entscheidet der 58-Jährige schließlich und treibt die Anwesenden vor sich her, während die Lastwagen der Hilfsorganisation bereits Fahrt aufnehmen und zurück in die 40 Autominuten südlich gelegene Stadt Charkiw rasen.

"Schneller, los, los, los!", treibt Kowalenko seine Mitbürgerinnen und Mitbürger an und rennt als Letzter hinterher – vorbei an gestapelten Lebensmitteln, Kleidungsstücken und Hygieneprodukten. In den hinteren Teil des Verteilerzentrums, das einmal eine Sporthalle war, die Treppen hinunter in einen kühlen und modrig riechenden Keller, dessen Wände im Gleichtakt der Explosionen zittern.

Hilfslieferungen in Solotschiw – das Ausladen der Kisten muss wegen Raketenalarms unterbrochen werden.
Foto: Daniela Prugger

Genervt, besorgt und erschöpft von diesem immer wiederkehrenden Ablauf sitzen die knapp 20 Menschen dicht an dicht auf den Bänken und Matten. "Wie lange wir wohl dieses Mal hier sitzen werden?", fragt jemand. "Pscht!", erwidert eine der Frauen, die nichts überhören will. Sie zählt die Explosionen: Jedes Mal, wenn es irgendwo draußen dumpf "bumm" macht, zählt sie laut mit. An Orten wie diesen eine neue Routine.

Seit einem halben Jahr attackiert Russland die Ukraine. Doch während die Menschen in vielen Landesteilen wieder arbeiten, in Restaurants gehen, einkaufen oder sogar feiern, hat sich das Leben hier in Solotschiw, keine 15 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, wohl für lange Zeit verändert – selbst dann, wenn es der ukrainischen Armee gelingt, die russischen Truppen ganz aus der Oblast hinaus und zurück hinter die Landesgrenze zu drängen. Denn die russische Stadt Belgorod, aus der immer wieder Raketen abgefeuert werden, ist sich so nah, dass das Wort Sicherheit zum Fremdwort wurde.

Ilona Butowa (links) und Oksana Yanchuk im Gang des Spitals. Die Betten werden von Fenstern weggeschoben, weil auch das Krankenhaus in der Vergangenheit schon zum Ziel geworden ist.
Foto: Daniela Prugger

Vor dem Krieg lebten in der Kleinstadt knapp 9.000 Menschen. Mittlerweile sind viele von ihnen geflohen, darunter auch ärztliches Personal, erklärt die Direktorin des hiesigen Krankenhauses, Ilona Butowa. Die 34-Jährige ist eine von fünf Ärztinnen, die noch immer hier arbeiten. Sie trägt einen weißen Kittel und eine kleine Handtasche, wie für einen Ausgeh-Abend. "Ich habe meinen Ausweis und die wichtigsten Sachen immer bei mir. Man weiß ja nie, was passiert", erklärt sie. "Wir sind seit Februar durchgehend im Einsatz und schlafen im Krankenhaus. Es macht keinen Sinn, nach Hause zu fahren."

Oksana Yanchuk (li.) und Ilona Butowa vor dem Eingang des Krankenhauses.
Foto: Daniela Prugger

Auch das Krankenhaus wurde wiederholt von russischen Raketen getroffen: Teile des Gebäudekomplexes gleichen Ruinen. Die Betten der Patienten wurden mittlerweile in die Gänge verlegt: weg von den Fenstern, die bei den Explosionen zerbersten. Im Ernstfall wird alles in den dunklen, feuchten Kellerbereich verlegt, in dem sich Erwachsene nur geduckt bewegen können.

"Ich meine, das ist Völkermord"

Im dritten Stock des Krankenhauses bittet Butowa in ein schmuckloses Büro. Sie ist müde. Müde von den persönlichen Schicksalsschlägen der Menschen, die sie seit dem 24. Februar hier aufnimmt. "Ich persönlich bin der Meinung, dass dies ein Völkermord am ukrainischen Volk ist", sagt sie. "Das ist kein Krieg. Ein Krieg findet zwischen Soldaten statt, dafür gibt es doch ein Kriegsrecht. Aber zu uns werden Zivilisten gebracht, Jugendliche, mit furchtbaren Verletzungen." Seit Monaten hält Butowa die Stellung. Ihre Tochter hat die Ärztin im März gemeinsam mit der Großmutter in die Zentralukraine geschickt. "Auf den Arm meiner Tochter habe ich meine Telefonnummer geschrieben, für den Notfall. Ich habe sie seither nicht mehr gesehen."

Beim Telefonat nach dem Raketenbeschuss. Eine Tote und einen Verletzten hat es gegeben, erfährt er gerade.
Foto: Daniela Prugger

Seitdem das Krankenhaus auch ukrainische Soldaten versorgt, ist ihre Arbeit noch gefährlicher. Fliehen wird Butowa dennoch nicht. "Wir haben jeden Tag Angst. Und wir wissen, dass niemand unsere Arbeit machen wird, wenn wir fliehen."

Die Kleinstadt aufzugeben steht auch für Bürgermeister Kowalenko nicht zur Debatte. Er habe selbst als Soldat in Afghanistan gekämpft und werde hierbleiben, bis der Krieg vorbei ist. Und das, obwohl lokale Politiker in den vergangenen Wochen immer wieder von den russischen Truppen entführt, gefoltert oder getötet wurden. "Es gibt keine Rückkehr zu dem, was früher war", sagt Kowalenko – auch wenn er es sich noch so sehr wünscht. Seine eigene Familie – Frau und Kinder – befindet sich an einem sicheren Ort. "Nur deshalb kann ich mich auf meine Arbeit konzentrieren." Auf seinem Smartphone zeigt er Fotos aus dem Italienurlaub im vergangenen Winter.

Erst als sich die Lage etwas zu beruhigen scheint, verlässt er den Bunker, geht nach oben, wo es Handyempfang gibt, um sich mit der Armee in der Gegend abzustimmen. "Eine Tote, ein Verletzter", sagt Kowalenko. Eine weitere traurige Bilanz an einem weiteren Tag im Krieg. (Daniela Prugger aus Solotschiw, 29.8.2022)