Pierre Brice und Lex Barker als Winnetou und Old Shatterhand.

Foto: Beta Film

Als am 11. August der Kinderfilm "Der junge Häuptling Winnetou" in die Kinos kam, sorgte das kaum für Resonanz. Auch die Ankündigung eines Begleitbuchs durch den Verlag Ravensburger lief eher als Randnotiz über den öffentlichen Radar. Acht Tage später gab das Unternehmen bekannt, aufgrund von Kritik an dem Werk doch davon abzusehen, das Buch in den Handel zu bringen.

Auch das schien die Öffentlichkeit kaum zu bewegen. Das änderte sich erst zwei Tage später, nachdem die "Bild"-Zeitung und in weiterer Folge andere Medien das Thema aufgegriffen hatten. Eine Datenanalyse des Content-Marketing-Spezialisten Scompler legt nahe, dass der seitdem durch die Schlagzeilen rasende Winnetou-Shitstorm mehr Erfindung denn genuine Aufregung ist – und als Medienversagen gesehen werden kann.

Die Debatte spülte die üblichen Argumentationslinien nach oben. Ein linker, "woker" Mob habe sich einmal mehr dazu aufgeschwungen, die Saga rund um das Duo aus Old Shatterhand und seinem besten Freund vom Stamm der Apachen zensieren und verbieten zu wollen. Karl Mays Büchern und darauf basierenden Werken drohe das Schicksal, ein Opfer der vielbeklagten "Cancel-Culture" zu werden. Ravensburger sei vor dem Druck einer radikalen Minderheit eingeknickt.

Verspätete Aufregung

Große Aufregung, hervorgegangen aus dem Aufbauschen eines aktualisierten Instagram-Postings, das bis dahin kaum beachtet worden war. Die Analyse mittels des Tools Talkwalker zeigt dabei laut Scompler eine recht klare Chronologie: Das Interesse an "Der junge Häuptling Winnetou" im deutschsprachigen Raum ist dabei bis zum 19. August – der Tag, an dem Ravensburger die Auslistung des Buches bekanntgab – kaum vorhanden. Selbst der Kinostart sorgte nur für einen geringen Ausschlag in der Kurve.

Für ein wenig mehr Resonanz sorgte das Ravensburger-Update, doch das eigentliche Lauffeuer begann mit einem Artikel der Boulevardzeitung "Bild". Wo Talkwalker zuvor pro Tag nur eine zweistellige bis niedrige dreistellige Anzahl an neuen Online-Texten zu Winnetou entdeckte, wurden daraus binnen zwei Tagen über 17.000.

Nach einem kurzen Abfall auf etwa 12.000 meldete die "Bild", dass die Winnetou-Verfilmungen nicht mehr im Programm der öffentlich-rechtlichen ARD seien. Dass der Sender die entsprechenden Lizenzen bereits 2020 nicht verlängert hatte, war erst beiläufig in der Einleitung zu lesen. Dass sie im Schwestersender ZDF weiter gezeigt werden, gar nicht. Die nach Ansicht von Scompler künstlich erzeugte Empörungswelle bekam neuen Auftrieb. Talkwalker meldete für den 21. August 20.355 Treffer zu Winnetou.

Ergebnisse zum Schlagwort "Winnetou" im Zeitverlauf, ermittelt von Scompler mittels des Tools Talkwalker.
Foto: Screenshot/Scompler

Das dürfte auch den Springer-Verlag zum größten Profiteur der Causa machen, heißt es in der Analyse weiter. Er trug mit Artikeln in der "Bild" und "Welt" maßgeblich dazu bei, aus einer wenig gelesenen Ankündigung zu einem von geringem Interesse begleiteten Film eine Affäre zu machen, die Wellen über Deutschland und Österreich hinaus schlug. Zahlreiche Spitzenpolitiker nutzten dies freilich, um sich öffentlichkeitswirksam zu positionieren – oftmals zur vermeintlichen Verteidigung von Freiheit und Kunst.

Das Klischee des "edlen Wilden"

Dass diese allerdings nie bedroht war, darauf weist auch schon der Umstand hin, dass sich schnell niemand mehr für das ursprüngliche Statement von Ravensburger interessierte. Der Verlag hatte die Absage der Buchveröffentlichung immerhin damit begründet, dass man die an das Unternehmen herangetragene Kritik an "Der junge Häuptling Winnetou" für sachlich angemessen befunden und deswegen Abstand genommen hatte.

Dass Karl Mays Buchreihe massiv mit Klischees arbeitet und die Figur des Winnetou, aber auch andere Indianer romantisierend als "edle Wilde" darstellt, wird auch nicht erst seit ein paar Wochen, sondern seit vielen Jahren kritisiert. Die Bücher gehen dabei mitunter über die Darstellung hinaus, die in den Verfilmungen zu finden ist. Vielen unbekannt ist etwa, dass Winnetou am Ende der Saga kurz vor seinem Tod zum Christentum übertritt.

Ein weiterer von zahlreichen Problempunkten ist auch, dass ihm Sprachunkundigkeit und eine Unfähigkeit, den Laut "tsch" auszusprechen, angedichtet wird. Auch diese Darstellung ist widersinnig, zumal das Volk der Apachen mit ebenjenem Laut ausgesprochen wird, der Laut auch ein Teil ihrer komplexen Sprache ist und etwa Winnetous Vater Intschu-tschuna heißt, wie etwa der Linguist und Autor Anatol Stefanowitsch auf Twitter ausführlich erklärt.

Auch Native Americans üben Kritik. Stefan Yazzie Herbert, österreichischer Regisseur und Mitglied des Stamms der Navajo, merkt gegenüber der "Kleinen Zeitung" an, dass Mays Werke nicht nur sehr populär seien, sondern häufig auch als authentische Darstellung indianischer Kultur wahrgenommen würden.

Der in Deutschland lebende Kendall Old Elk vom Stamm der Apsaalooke sieht im Gespräch mit dem "Stern" die Erzählmuster von May ebenfalls als Problem an. Dessen Aussage zum "Jungen Häuptling Winnetou" wurde, wie Scompler dokumentiert, zudem in der medialen Berichterstattung verdreht. Zwar hatte er es für nicht nötig befunden, das Buch vom Markt zu nehmen, aber auch gesagt, dass es besser wäre, man hätte es gar nicht erst publiziert. Der zweite Teil der Aussage war von der "Bild" aber nicht wiedergegeben worden, deren Text wiederum als Anhaltspunkt für viele andere Medien gedient hatte.

"Unser Mediensystem ist kaputt"

Scompler übt scharfe Kritik an den Medien für den Umgang mit der Winnetou-Debatte. Statt zumindest zu einer sachlichen Auseinandersetzung über das Thema beizutragen, habe die Berichterstattung oft nur Aufregung und Polarisierung gefördert.

"Nach eigenen Aussagen hat der Ravensburger Verlag sachliche Kritik ihrer Community ernst genommen und einen Fehler eingesehen. Nur passt das wohl nicht in das Weltbild (und das Geschäftsmodell) einiger Medien", fasst man die Erkenntnisse aus der Analyse zusammen. "Also erfanden sie den Shitstorm und verhinderten so nebenbei noch, dass wir uns inhaltlich mit dem Thema 'Rassismus' auseinandersetzen, inklusive der Frage, ob 'gut gemeinter' Rassismus auch Rassismus ist. Unser Mediensystem ist kaputt. Richtig kaputt. Teilweise ist es gar infam." (gpi, 30.8.22)