In seinem Gastbeitrag analysiert Dieter Weidmann, mit welchen rechtlichen Strategien Spanien auf EU-Ebene gegen katalanische Politiker und Politikerinnen vorgeht.

Zurzeit läuft ein Prozess vor dem Europäischen Gericht, der sich mit der Auslegung des EU-Haftbefehls im Allgemeinen und im Besonderen mit den spanischen EU-Haftbefehlen gegen katalanische Politiker und Politikerinnen im Exil in Belgien befasst. Vorausgegangen waren dem in den letzten Jahren drei spanische EU-Haftbefehle gegen dieselben Personen, welche die belgische Justiz allesamt ablehnte und deshalb nicht ausführte.

Während in Spanien immer wieder für die Unabhängigkeit Kataloniens demonstriert wird, befinden sich prominente Figuren der Bewegung im Exil – zum Missfallen Spaniens.
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Nachdem im November 2017 der erste EU-Haftbefehl ausgestellt wurde, wurde dieser kurz darauf wieder zurückgenommen, da die Anklagepunkte genauer ausgearbeitet werden müssten. Im Januar 2018 besuchte der ehemalige Präsident von Katalonien, Carles Puigdemont, der auch von diesen Haftbefehlen betroffen war, Dänemark, aber der zuständige Richter entschied, dass dies noch nicht der Moment sei, um einen neuen EU-Haftbefehl gegen ihn auszustellen. Im März 2018 aber wurde Puigdemont an der deutsch-dänischen Grenze in Deutschland aufgrund des spanischen EU-Haftbefehls festgenommen und nach zwölf Tagen unter Auflagen freigelassen.

Verweigerte Auslieferung und fragwürdige Unparteilichkeit

Nach viermonatigem Prozess lehnte das Oberste Gericht in Schleswig-Holstein das Auslieferungsgesuch Spaniens ab, weil es weder Rebellion noch Aufruhr beim von Spanien nicht genehmigten Referendum in Katalonien im Oktober 2017 feststellen konnte. Sieben Tage später wurden vom zuständigen spanischen Richter die EU-Haftbefehle wieder zurückgezogen. Erst nach der Verurteilung von katalanischen Regierungsmitgliedern bei einem Prozess in Madrid lässt er neue EU-Haftbefehle gegen die Politiker und Politikerinnen im Exil ausstellen. Der spanische Richter Guillem Soler kommentiert, dass die Ausstellung und Rücknahme eines EU-Haftbefehls für dieselbe Person darauf hindeute, dass eine juristische Strategie dahinterstecke, die nicht im Einklang mit der erforderlichen juristischen Unparteilichkeit stehe.

Faire Prozesse im Kontext von Kataloniens Unabhängigkeit?

Den grundlegenden juristischen Aspekt dieser Auseinandersetzung Spaniens mit Katalonien kommentierte der ehemalige Richter am Obersten Gericht Spaniens José Antonio Marín Pallín während eines Interviews in der Zeitung "El Diario" im Juni 2022. Angesprochen auf die Verurteilung von katalanischen Politikern und Politikerinnen der Regierung, der Präsidentin des katalanischen Parlaments und zweier Präsidenten von sozialen und kulturellen Einrichtungen wegen Aufruhrs, erwiderte Pallín, es sei gut möglich, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg dieses Urteil für nichtig erklären könnte.

Dabei ginge es nicht darum, ob es Aufruhr war oder nicht, sondern der EGMR könnte nach Prüfung feststellen, dass es sich nicht um einen gerechten und fairen Prozess handelte. Schließlich übt Pallín Kritik an der Tatsache, dass die Präsidentin des katalanischen Parlaments, Carme Forcadell, ebenfalls verurteilt wurde. Er wies darauf hin, dass die Parlamente keine öffentlichen Verwaltungen seien, im Gegensatz zu den Regierungen, sondern Vertreter der Volkssouveränität. Aus diesem Grund bezeichnet er die Verurteilung von einer Präsidentin eines Parlaments als bisher noch nie dagewesenes Ereignis in den Ländern der EU.

Grundrechte: Für Gruppen oder Individuen?

In einem anderen Interview mit der spanischen Presseagentur Efe machte Pallín klar, dass die Gewaltenteilung verletzt werde, wenn das Gericht der Präsidentin untersage, die Kompetenzen, welche ihr dieses Organ übertragen hat, auch anzuwenden. Die spanische Staatsanwaltschaft und die EU-Kommission – merkwürdigerweise von einem Spanier vertreten – argumentierten bei der Anhörung beim EuGH in Luxemburg im April dieses Jahres, dass der spanische EU-Haftbefehl nur dann von Belgien hätte abgelehnt werden können, wenn Spanien die Grundrechte einer größeren Gruppe im Lande systematisch verletzen würde und nicht jene von Einzelpersonen.

Diese spanische Position hatte sich Mitte Juli 2022 der Generalstaatsanwalt Richard de la Tour in seiner Stellungnahme zu eigen gemacht. Das ist offensichtlich ein Widerspruch zu dem EU-Vertrag, der die Grundrechte als individuelles Recht bezeichnet, die konsequenterweise auch eine individuelle Verteidigung vorsehen. Letztere Interpretation wurde auch bei ebendieser Anhörung in Luxemburg von der italienischen Richterin Lucia Serena Rossi und von dem österreichischen Richter Andreas Kummin vorgetragen. Unter der Leitung des dänischen Richters Lars Bay Larsen wird das endgültige Urteil Ende dieses Jahres gesprochen. Sollte sich bei den 15 Richtern und Richterinnen die Meinung des Generalstaatsanwaltes durchsetzen, hört man von der Verteidigung der katalanischen Politiker im Exil in Belgien, dass man genug Material habe, welches zurzeit ins Flämische übersetzt würde, um eine systematische Verletzung der Menschenrechte in Spanien dem EuGH vorzulegen, was dann wieder vor einem belgischen Gericht beurteilt würde.

Menschenrechtsverletzungen in Spanien

Die Verteidigung ist der Meinung, dass die inzwischen vorliegenden Abhöraufzeichnungen von katalanischen Befürwortern und Befürworterinnen der Unabhängigkeit die Glaubwürdigkeit Spaniens als Rechtsstaat ausreichend erschüttert haben und damit die systematische Verletzung der Grundrechte in Spanien auf europäischer Ebene dokumentiert wurde. Schon im Januar 2020 stellten die Vereinten Nationen in ihrem Bericht "Universal Periodic Review" fest, dass Spanien Menschenrechte verletze, und führten den Fall Katalonien, das Fortbestehen von Tendenzen aus der Franco-Zeit sowie das "Maulkorbgesetz" (Ley de Seguridad Ciudadana) von 2015 an. Dieses schränkt die Grundrechte in hohem Maße ein.

Die "Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte" stellte im Februar 2021 fest, dass der Prozess und der Urteilsspruch des Obersten Gerichts von Spanien gegen die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter und Unabhängigkeitsbefürworterinnen "eine politische Absicht enthüllt hat, um die Verurteilten während ihrer Zeit im Gefängnis und noch einige Jahre danach politisch mundtot zu machen".

Europarat: Kritik an spanischer Rechtslage

Bereits der Europarat entschied in einer Resolution (2381 (2021)-Doc. 15307), dass Spanien wegen der Verletzung der Menschenrechte zu rügen sei, weil die politischen und privaten Befürworter und Befürworterinnen der Unabhängigkeit in Katalonien starker Repression ausgesetzt seien. Die Folge davon war, dass die spanische Regierung aufgefordert wurde, Begnadigungen gegen neun Angeklagte auszusprechen, was auch geschah. Dagegen ging das rechte Parteispektrum vor, wurde aber vom Obersten Gericht abgewiesen. Mit dem Wechsel eines Richters im Obersten Gericht wurde nun das zweite Ansinnen derselben Gruppe angenommen: Waren Begnadigungen bisher eine Angelegenheit der Regierung, kann es nun in Spanien – gegen die Befürworter und Befürworterinnen der Unabhängigkeit – zu einer ungewöhnlichen juristischen Begutachtung einer Begnadigung kommen.

In der Sitzung des "Ausschusses für juristische Angelegenheiten und Menschenrechte des Europarates" am 21. Juni 2022 wurde über einen Bericht der Repression des spanischen Staates gegenüber den katalanischen Unabhängigkeitsbefürwortern und Unabhängigkeitsbefürworterinnen abgestimmt. Dieser Bericht weist auf die Begnadigungen der katalanischen Politiker und Politikerinnen und zweier Präsidenten von sozialen und kulturellen Organisationen hin. Es bestehe die Gefahr, dass ein Gericht diese zurücknehmen könnte. Weiters werde die spanische Institution "Tribunal de Cuentas" (Rechnungshof) zu politischen Zwecken missbraucht, welche neben den Gefängnisurteilen extrem hohe Geldstrafen verhänge. Eigentlich sei der spanische Rechnungshof ein administratives Organ, welches aber wie ein Gericht Urteile – ohne Garantien für einen fairen Prozess – fälle.

Zukünftige Entwicklungen

Spanien ist immer noch nicht der Empfehlung des Europarates nachgekommen, das Gesetz über den "Aufruhr" (Sedición) von Grund auf zu ändern. Kürzlich ließ Ministerpräsident Pedro Sánchez verlauten, er habe noch nicht die nötige Mehrheit dafür. Drei Viertel des Europarates fordern nach wie vor die Reform des spanischen Strafrechtes. Der Europarat kritisiert das von spanischen Gerichten ausgesprochene Berufsverbot für öffentliche Ämter parallel zu den Gefängnisstrafen. Weiters fragt er sich, welchen Sinn die spanischen EU-Haftbefehle für die katalanischen Politiker und Politikerinnen im Exil haben, wenn für ihre Kollegen und Kolleginnen in Spanien für die gleichen Anklagepunkte Begnadigungen ausgesprochen wurden. Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH am Ende dieses Jahres entscheiden wird. (Dieter Weidmann, 5.9.2022)