An die Toten von Döllersheim erinnern sich heute nur mehr wenige.
Foto: Michael Windisch

Döllersheim ist ein Ort in Klammern. Wer das kleine Dörfchen auf einer Landkarte sucht, findet es genau so – in Klammern gesetzt. Wer aber auf der L75 vom Ottensteiner Stausee in Richtung Allentsteig daran vorbeifährt, findet inmitten von Wald und Gestrüpp nichts außer Ruinen. Die Kirche ist noch da, abseits der Straße auf einem Hügel, aber die Spitze des Kirchturms fehlt. Von Pfarrhaus, Volksschule und einem kleinen Spital stehen nur mehr die Grundmauern. Am lebendigsten wirkt der Friedhof. Doch an die Toten hier erinnert sich kaum jemand. Vor mehr als achtzig Jahren wurden sie alleingelassen – als Döllersheim aufhörte zu existieren. Denn Döllersheim, das ist das südliche Tor zum Waldviertler Truppenübungsplatz Allentsteig. Seine Geschichte ist untrennbar mit der des Militärgeländes verbunden. Und der Truppenübungsplatz machte Döllersheim selbst zur Geschichte – und zu einer Quelle von Mythen, die sich um Adolf Hitlers Familiengeschichte ranken.

Im September 1942 schließt Bischof Michael Memelauer die Döllersheimer Pfarrkirche. Es ist das Ende der Aussiedlung.
Foto: Michael Windisch

Zeitsprung in das Jahr 1938: Es sind erst wenige Monate vergangen, seitdem die Nationalsozialisten in Österreich die Macht übernommen haben. Die militärischen Expansionspläne des NS-Regimes sind aber bereits voll im Gange. Schon im Juni beauftragt daher die Wehrmacht die Deutsche Ansiedlungsgesellschaft (DAG) damit, im Waldviertel Raum für einen Truppenübungsplatz zu schaffen. Das Areal zwischen Horn und Zwettl ist schnell gefunden. Doch es gibt ein Problem: 7.000 Menschen leben in dem hügeligen Landstrich, der mit 190 Quadratkilometern weit größer ist als Graz. Sie müssen weg, und das möglichst schnell. Zurück lassen sie ihre Höfe, Äcker und Wälder in 13 Gemeinden und 42 Ortschaften. Die größte und bedeutendste von ihnen ist Döllersheim. Ihren Namen soll das nationalsozialistische Großprojekt später tragen.

Ungeliebte Führer-Heimat

Um die Gründe, warum der Truppenübungsplatz genau hier errichtet wird, ranken sich schon bald Mythen. Für einen davon sorgen die Familienverhältnisse des "Führers" Adolf Hitler selbst. Seine Großmutter Anna Maria Hitler (geb. Schicklgruber) war Dienstmagd in Strones, das zum Döllersheimer Pfarrgebiet gehörte. Hitlers Vater kommt hier 1837 als uneheliches Kind zur Welt. Als Anna Maria Hitler 1847 stirbt, wird sie auf dem Friedhof von Döllersheim beerdigt. Ihr Grab lässt sich bald nicht mehr identifizieren – dennoch zieht der Friedhof in den späten 1930ern immer mehr Führer-Pilger an, ebenso wie Anna Maria Hitlers altes Wohnhaus in Strones.

Auf dem Döllersheimer Friedhof ist Adolf Hitlers Großmutter Anna Maria begraben. Wo genau, das weiß heute niemand mehr.
Foto: Michael Windisch

Der Kult um die von Adolf Hitler wenig geschätzte väterliche Familienlinie soll dem Diktator unangenehm gewesen sein. Deshalb habe er deren Geschichte mit der Errichtung des Truppenübungsplatzes buchstäblich auszulöschen versucht – so will es die Gerüchteküche schon bald. Wahrscheinlicher ist freilich, dass die periphere Lage des Waldviertels, die topografischen Bedingungen sowie die Nähe zur Franz-Josefs-Bahn den Ausschlag gaben.

Die Aussiedlung erfolgt in Etappen. Die ersten Bewohner müssen schon wenige Wochen nach ergangener Order Anfang August 1938 ihre Höfe räumen. Am 8. August wird auf dem Truppenübungsplatz bereits scharf geschossen – auch wenn die letzten Ortschaften erst im Herbst 1942 menschenleer sind. Wer früher dran ist, für den hat die DAG meist einen adäquaten Ersatz zum eigenen Hof parat, in Niederösterreich, der Steiermark, in Kärnten oder Tirol. Auch wenn die Trauer über den Abschied von der Heimat, den Nachbarn, den Verwandten groß ist, bleibt der offene Widerspruch daher gering. Je weiter der 1939 einsetzende Krieg fortschreitet, desto schwieriger gestaltet sich die Suche nach Land: Denn Grund und Boden gelten als Sicherheit in Krisenzeiten. Kaum ein Landwirt will mehr an die Ausgesiedelten verkaufen.

Wer bei der Aussiedlung ein geringerwertiges Grundstück übernimmt, bekommt den Differenzbetrag zwar auf ein Sperrkonto gutgeschrieben – sieht das Geld aber oftmals nicht mehr: Nach dem Ende des Krieges ist niemand mehr da, der es auszahlen könnte.

Als Kind in den Ruinen

Franz Lehr ist einer der vielen, die wegmüssen. Der heute 100-Jährige kann selbst nur mehr wenig von den Ereignissen erzählen. Seinen Sohn Bernhard (61) begleitet die Familiengeschichte aber bis heute. Die Familie kommt nach der Aussiedlung in Muckendorf in der Nähe von Tulln unter. Schon als Kind besucht er mit seinem Vater die Ruinen von dessen Elternhaus in Oberndorf im westlichen Teil des Truppenübungsplatzes, erzählt Lehr, der heute Obmann des von seinem Vater gegründeten Vereins "Freunde der Alten Heimat" ist.

Der Staub der Zeit liegt auf der alten Kirche.
Foto: Michael Windisch

Die Zeit nach dem Krieg – das ist für die Familie Lehr wie für viele andere die Zeit der großen Ungewissheit: Sie richten Rückstellungsanträge an das Kreisgericht Krems. In den ersten Nachkriegswochen zeigt sich das offizielle Österreich auch bereit, die Grundstücke zurückzugeben. Doch die sowjetische Besatzungsmacht legt die Hand auf den Übungsplatz. Nach dem Staatsvertrag herrscht neuerlich Ungewissheit. Dann aber wird klar: Die Republik Österreich will das Gelände weiter militärisch nutzen. Der heutige Truppenübungsplatz Allentsteig entsteht, etwas kleiner, aber immer noch mit rund 150 Quadratkilometer Größe.

"Mein Vater hat alle Papiere aufbehalten, für den Fall der Fälle. Aber unser Hof war in den 1960er-Jahren schon so verfallen, dass eine Rückabwicklung kaum mehr möglich gewesen wäre", erzählt Lehr. Andere hoffen inständig, auf die alten Gründe zurückzukehren – müssen aber bald einsehen, dass das nicht mehr geschehen wird: "Es war ein ohnmächtiges Akzeptieren der Situation." Erst in den 1990er-Jahren erhalten einige der Ausgesiedelten den Differenzbetrag, um den der Wert ihrer neuen Höfe den der alten unterboten hat, ausbezahlt. Im Fall von Familie Lehr sind das 70.000 Schilling.

Vergessen kann und will Familie Lehr aber nicht. "In seiner Altersdemenz glaubt mein Vater heute manchmal, in seinem Heimatort Oberndorf zu sein", erzählt Bernhard Lehr. Als er selbst Ende der 1970er vor der Wahl zwischen Wehr- und Zivildienst steht, gibt nicht zuletzt die Geschichte den Ausschlag zugunsten von Letzterem: "Ich wollte nie auf dem Gebiet mit einer Waffe schießen, von dem meine Familie stammt."

Gegenüber der Kirche befand sich eine kleine Volksschule. Auch von ihr stehen nur mehr die Grundmauern.
Foto: Michael Windisch

Erinnerung an die 7.000

Bernhard Lehr sieht seine Aufgabe darin, gegen das Vergessen zu arbeiten. Und doch kommen ihm manchmal Zweifel, ob es überhaupt angebracht ist, angesichts der Dimensionen heutiger Flüchtlingskatastrophen an die 7.000 Menschen aus dem Waldviertel zu erinnern. Er tut es trotzdem, organisiert etwa alljährlich zu Allerseelen eine Gedenkveranstaltung in Döllersheim. Und er zitiert Erich Fried, der in einem Gedicht die Erinnerung an die Verbrechen von gestern als Vorbeugung gegen die Verbrechen von morgen beschreibt: "Mein Teil ist es, dieses Gedenken aufrechtzuerhalten. Vielleicht ist es ja doch wichtig." (Michael Windisch, 30.8.2022)