Das Filmfestival Venedig hat heuer ein besonders attraktives Paket an neuen Filmen am Start: Eröffnet wird am Mittwoch mit Noah Baumbachs Don-DeLillo-Verfilmung "White Noise".

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Zumindest einer der Gründungsmythen des Filmfestivals in Venedig ist touristischer Natur. Um den Spätsommer für betuchte Urlaubende am Lido anziehender zu machen, suchte man eine weitere Attraktion für die Anreise – oder das längere Verweilen. Filmpremieren mit Stars, die selbst vom zeitlosen Glanz der Lagunenstadt angelockt wurden, erschienen als ideales Rezept gegen Besucherausdünnung. Die großen Hotels wie das mächtige Excelsior konnten die Jalousien offen lassen.

Daran hat sich bis heute wenig geändert, außer dass sich die Touristen mit Horden aus der Filmbranche mischen. Der Zeitpunkt hat sich als ideal erwiesen, weil die Mostra als Auftakt in den Kinoherbst und die "award season" gilt, die sich bis ins nächste Jahr hinüberzieht. Selbst durch Corona ist man durchgetaucht. Dieses Jahr kehren auch viele Stars zurück, darunter Greta Gerwig, Adam Driver, Christoph Waltz, Florence Pugh und sogar Harry Styles.

Netflix

Der selbstzufriedene Tonfall, mit dem das aktuelle Line-up verkündet wurde, kann aber nicht verdecken, dass innerhalb der Branche postpandemische Unsicherheit schwelt. Venedig hatte anders als Cannes oder Berlin nie ein Problem damit, Prestigeproduktionen der großen Streamer zu präsentieren.

Dieses Jahr sind Netflix-Filme wie Bardo von Regisseur Alejandro G. Iñárritu (Birdman) oder Andrew Dominiks Blonde mit dabei, in dem Ana de Armas Marilyn Monroe verkörpert. Noah Baumbachs Verfilmung von Don DeLillos Postmoderne-Roman White Noise wird das Festival am Mittwochabend eröffnen. Neu ist jedoch, dass Netflix selbst in der Krise steckt, die Abo-Zahlen sind besonders im nordamerikanischen Raum stark gesunken. Dass man nun den Lido engagiert als Startrampe nutzt, zeigt, wie sehr man die PR im Qualitätssektor brauchen kann.

Kampf der Streamer

Das war nicht immer so. Doch je energischer der Kampf im Streamingbereich geführt wird, desto stärker scheint die Rückbesinnung auf große Titel. Nicht nur die Kinos leiden darunter, dass immer mehr Anbieter um die Aufmerksamkeit des Publikums kämpfen. Auch bei den Studios scheint wieder stärker Fokussierung gefragt – dabei wird den Prestigetiteln mehr Pflege zuteil. HBO Max hat Batgirl gleich durch den Fleischwolf gedreht, als man den Glauben an den Erfolg verlor.

Die Ungewissheiten im Distributionsreich spielen der Rolle der Herbstfestivals als Plattformen zu. Sie gewähren Übersicht im Gewimmel eines Markts, in dem sich die Hierarchien verschieben. Venedig hat in seiner 79. Ausgabe ein besonders attraktives Paket geschnürt, das auf dem Papier nicht einfach nur große Namen, sondern auch stilistische Vielfalt verspricht. Im unmittelbar an Venedig anschließenden Filmfestival von Toronto geriet Filmkunst zuvor ins Hintertreffen.

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Zwei Goldene-Löwen-Gewinner sind wieder dabei, Darren Aronofsky mit The Whale, in dem ein kaum wiedererkennbarer Brendan Fraser einen adipösen Vater spielt. Von Jafar Panahi, der seit Juli im Iran im Gefängnis sitzt, wird No Bears gezeigt. Er wurde erneut im Geheimen gedreht und soll von zwei hindernisbehafteten Liebesgeschichten erzählen. Die Premiere von Panahis Film am 9. September wird von einem Flashmob begleitet, mit dem man gegen seine Inhaftierung protestieren wird. Auch einen Ukraine-Tag wird es am Lido geben, an dem es um die Not der dortigen Filmschaffenden geht.

Auffällig ist, wie viele Filme heuer Horror- und Spukmotive bedienen. Luca Guadagnino hat das Kannibalendrama Bones and All realisiert und vorab betont, dass er sich vor allem für den moralischen Kampf seiner Figuren begeistert hat. Die Britin Joanna Hogg präsentiert mit The Eternal Daughter eine Gespenstergeschichte mit Tilda Swinton. Eine unheimliche Note hat auch Don’t Worry Darling von Olivia Wilde, in dem eine Vorzeigesiedlung in den 1950ern ins Monströse kippt.

Heimische Beiträge

Um reale politische Verwerfungen geht es dagegen in All the Beauty and the Bloodshed, in dem sich die furchtlose US-Dokumentaristin Laura Poitras (Citizenfour) mit dem Kampf der Fotografin Nan Goldin gegen die US-Opioid-Epidemie beschäftigt. Als Geheimtipp wird das Spielfilmdebüt der Französin Alice Diop, Saint Omer, gehandelt, das einen Kindsmord behandelt. 23 Filme sind es insgesamt, aus denen die Jury rund um Julianne Moore bis 10. September auswählen kann.

Aus Österreich sind Tizza Covi und Rainer Frimmel mit Vera im Rennen, allerdings in der Nebenschiene Orrizonti. In der Settimana della Critica feiert Eismayer von David Wagner seine Weltpremiere. Der langjährige Venedig-Chef Alberto Barbera sprach in einem Interview davon, dass die Filme dieser Saison das Publikum beflügeln würden – in den nächsten zwei Wochen wird man ein wenig besser wissen, wie gut begründet sein Optimismus ist. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 30.8.2022)